Neal Morse / "?"
Fragezeichen
Vielleicht sollte man Neal Morse eine Quantenzahl zuordnen. Welche wäre wohl besser dazu geeignet als die 'Strangeness'? Denn strange ist einiges an diesem Herren, was sich sicherlich auch durch die fragwürdige Bezeichnung des neuen Albums manifestiert. Es trägt das Symbol: "?".
Tja, großes Fragezeichen bei uns allen, nicht wahr? Neal Morse erklärt es so:
"…ich hatte mit ein paar Freunden die Idee, ein 'Secret Album' zu machen... Es geht auf "?" um das, was ich für die Mysterien Gottes halte. Mein Ziel ist es, die Menschen zum Nachdenken über diese Dinge anzuregen und ihre Herzen mit meiner Musik zu berühren."
Über das zweite der genannten Ziele will man ja gar nichts weiter sagen.
Der zum Superchristen konvertierte Supermusiker will nun aber also doch noch irgendwie missionieren. Als wenn sich nicht jeder von uns schon selbst sein bevorzugtes Weltbild zurechtgebastelt hätte. Für Neals Anmaßung und Ignoranz ziehen wir vorsorglich schon mal eine der begehrten RockTimes-Uhren ab.
Vor gar nicht all zu langer Zeit bemerkte Roine Stolt bedauernd, dass er überhaupt nicht begreifen könne, weshalb Neal mit ihm und Pete Trewavas nicht mehr zusammen arbeiten wolle. Schließlich dürfe Mike Portnoy weiterhin für Morse in die Felle dreschen. Und Roine selbst und Pete wären schließlich auch nette Typen. Nun, ein klein bisschen scheint Neal von seiner Bekehrung bekehrt zu sein, denn zumindest Roine Stolt ist wieder mit an Bord. Vielleicht wird die ganze Chose doch bald 'transatlantisch', denn Roine hat mittlerweile Kaipa den Rücken gekehrt und somit etwas mehr Freiraum. Drei Viertel von Transatlantic musizieren also wieder gemeinsam. Überhaupt ist einiges mit Namen an den Aufnahmen von "?" beteiligt gewesen. Als da wären Steve Hackett, Jordan Rudess von Dream Theater und Neals Bruder Alan Morse. Neal zeigt sich ungewöhnlich gesellig.
Wir haben es bei "?" mit einem echten Morse zu tun. Das Album zieht sämtliche Register des Progressive - Rocks Morse'scher Ausprägung. Die Strukturen seiner Kompositionen und Arrangements sind ebenso unverkennbar wie seine unbezahlbare Stimme. Er selbst spricht diesmal nicht von Songs, sondern von Sektionen, weil er "?" eigentlich als ein einziges Stück betrachtet. Die tatsächliche Gliederung ist angeblich hauptsächlich zur Orientierung umgesetzt worden, damit die einzelnen Sektionen selektiv anwählbar sind.
Na ja, wenn das wirklich den Tatsachen entsprechen würde, wäre es konsequenter gewesen, diese Parts einfach durchzunummerieren - anstatt sie mit "The Tempel Of The Living God", "The Glory Of The Lord" oder "Inside His Presence" zu betiteln.
Schon alleine das Gitarristen Aufgebot mit Morse, Hackett und Stolt wäre Grund genug, diese Scheibe in seinen Besitz zu bringen. Die Drei fackeln ein wahres Feuerwerk ab. Die Bandbreite reicht von wahnsinnig rasanten Passagen bis hin zu einfühlsamen, gefühlvollen Parts - auch mal mit Hilfe der Voice-Box. Und immer wieder stellen sich die Keyboarder Neal Morse und Jordan Rudess zum Duell. Mal erinnern ihre Sounds eher an die klassische Hammond, dann erschallen ihre Sequenzen im gnadenlosen Sägezahngewand.
Eine ausgetüftelte Balance zwischen groovigen Keyboards und harten Gitarrenriffs stellt die Band bei "Solid As The Sun" her. Auch ein recht mutiger Titel, wie wir finden, denn das meiste von der Sonne ist nichts weiter als Gas. Trotzdem sollten sich die Bassfanatiker diese Sektion mal reinziehen. Randy George zelebriert ein hörenswertes Basssolo von ungefähr 33 Sekunden mit überragender Musikalität.
Neal will die Herzen seiner Hörer erreichen! Mit "Outside Looking In" gelingt ihm das in beeindruckender Weise. Diese emotionale, eindringliche Sektion offenbart Neals gesamten songschreiberischen Genius. Andere Leutchen sind überglücklich, wenn sie in ihrer ganzen Karriere einen solchen Songs zustande bringen. Morse liefert ähnliches Zeugs auf jedem verdammten Album ab. Ich schwöre: Wenn dieser Song von Phil Collins stammen würde, stünde uns der absolute MTV-Video Overkill bevor.
Die direkt danach folgende Sektion "12" schlägt in die gleiche Kerbe. Sie ist dabei aber intensiver instrumentiert und bietet den Gitarristen wieder mal eine herrliche Spielwiese. Den Keyboardern natürlich auch.
Hervorragende Musiker interpretieren eine fantastische Komposition. Sie verlangt ihnen alles ab, bietet den Akteuren dabei gleichzeitig genug Freiraum zur kreativen Entfaltung. Die Strukturen der Arrangements sind vielfältig, die Klangfarben heterogen, die Wechsel atemberaubend. Trotz allem ist "?" auch ohne halluzinogene Drogen zu meistern. Im Gegenteil: Je klarer der Geist, desto besser kristallisieren sich die Imaginationen heraus.
Was werden wir von Neal Morse in Zukunft wohl noch alles zu hören bekommen? Kann er dieses Niveau auf Dauer wirklich halten?
Es gibt Musikfans, die sich das schon nach der zweiten Spock's Beard- Scheibe gefragt haben und noch heutzutage immer wieder den verstaubten Kopfhörer reaktivieren, sobald der Plattenhändler ein neues Werk von Morse liefert. Damit sie auch ja keinen Ton verpassen.
Neal, ruf bitte Pete Trewavas an, werde wieder transatlantisch und bringe jedes Jahr ein Soloalbum heraus. Und erzähl zwischendurch wenigstens ab und zu ein paar andere Geschichten. Ansonsten klebe dir die 8 wohlverdienten RockTimes Uhren ins Gesangbuch und beehre mal wieder good Old Germany!


Spielzeit: 56:32, Medium: CD, Insideout-Musik, 2005
1:The Tempel Of The Living God, 2:Another World, 3:The Outsider, 4:Sweet Elation, 5:In The Fire, 6:Solid As The Sun, 7:The Glory Of The Lord, 8:Outsinde Looking In, 9:12, 10:Deliverance, 11:Inside His Presence, 12:The Tempel Of The Living God


Olli "Wahn" Wirtz, 26.10.2005