Die CD heißt "One". Seltsamer Name für die CD eines Mannes, der bisher sicherlich eines bewiesen hat: Fleiß! Er drückte Spock's Beard einen dermaßen prägnanten Stempel auf, dass sich die Band nach seinem Ausstieg immer noch in einem Selbstfindungsprozess zu befinden scheint. Er war das Rückgrat von Transatlantic. Die sind im Gegensatz zu Spock's Beard sogar ganz von der Bildfläche verschwunden. Wenn "One" wenigstens seine erste Solo-Scheibe wäre. Aber nein, unter seinem eigenen Namen hat Neal auch schon mehrere Platten veröffentlicht.
Neal Morse macht auf "One" richtig Ernst. Über eine Länge von 79,55 Minuten ackert er auf der Haupt-CD der mir vorliegenden Special Edition ehrlichen und intelligenten Progressive Rock herunter. Auch bei der Instrumentierung hält sich Neal nicht mit Kleinigkeiten auf. Neben dem normalen Progressive Rock Ensemble sind zu hören: Violine, Französisches Horn, Cello, String Bass, Saxophon, Trompete und Posaune. Dieses klangliche Spektrum ist perfekt in die Musik hineinarrangiert. Oft wirken Alben überladen, wenn sie mit einer derartigen Vielfalt an Klangfarben aufwarten. Bei "One" sind oft daraus resultierende Schlaumeiereien wie "Weniger ist mehr" dagegen absolut unpassend.
Neal Morses Musik erinnert mich irgendwie an ein Fraktal (Anmerkung dazu siehe am Ende des Reviewtextes.). Sie ist ebenso bestechend schön wie ein solches Gebilde und natürlich ebenso komplex. Aber gerade die typische Eigenschaft der Selbstähnlichkeit ist sowohl in den Fraktalen als auch in den Kompositionen enthalten. Die Strukturen in den Morse- Songs, ja eigentlich auch im ganzen Album, variieren immer wieder um ein sich wiederholendes Thema. Aber es ist nie genau gleich, sondern ständig von Nuancen der Veränderung geprägt. Zeichnet so was nicht wirklich große Kompositionen und deren Schöpfer aus?
Die Anspielstipps (richtiger wäre wohl die Bezeichnung "auf jeden Fall bis zum Ende Spiel"-Tipps):
"One" wird eröffnet durch "The Creation". Mit seiner Spielzeit von 18:22 Minuten ist es eine Symphonie der Kreativität. Jeder Progressive Rocker dürfte restlos begeistert sein:
von der dem Song innewohnenden Harmonie,
von den ausgeklügelten Arrangements und
von den unterschiedlichen Schwerpunkten in den verschiedenen Phasen des Songs.
Mal bildet Mike Potnoy durch Einsatz der Double Bass das Kraftzentrum, dann wieder Neal mit den Keys. Und dann ist da noch das unglaubliche Gitarrensolo von Phil Keaggy bei etwas mehr als 8 Minuten...
"Author of Confusion" eignet sich hervorragend dazu, ungeliebten Besuch subtil in den Wahnsinn zu treiben. Oder den Partner, wenn er genervt von der Arbeit nach Hause kommt. Es knallt zu Beginn gleich brachial mit seinem schrägen Progressive-Melodielauf durch die Luft. Seine Dynamik gepaart mit dem dichten Instrumenteneinsatz sind es, die dem Hörer keine Pause gönnen. Meint man die ersten Donnerschläge überwunden zu haben und erfreut sich erschöpft den etwas zahmeren Passagen, treiben die nächsten dichten Läufe den Musikfan an den Rand der Konfusion - mit Unterstützung der Lead-Guitar und den Key-Sounds.
Die folgende a capella Vocalspassage singen die Musiker in bester "Gibberish" Manier. Es wird wild "gekanont", "gezweit"- und "gedrittstimmigt". "Author of Confusion" ist ein würdiger Name für diesen Song. Neal wird es Spaß machen, dieses Ding live zu präsentieren.
Eine schöne Melodie mit Harmonien zum Träumen bieten Neal Morse und seine Truppe mit "Cradle to the Grave". Gesanglich unterstützt ihn dabei Phil Keaggy mit der zweiten Lead Vocal. Dieser Song ist ebenfalls auf der Bonus-CD enthalten, dort alleine mit Neals Gesang.
Richtig rockig wird es bei "Reunion". Da sind mal wieder die vielen Instrumente. Sie sorgen für eine tolle Akkord-Wand. Die Jungs zeigen noch mal alles, was sie so draufhaben. Besonders bestechend sind die Trommeleinlagen von Mike Portnoy. Verdammt, ich vergöttere seine Double-Bass Explosionen bei dieser Art von Musik.
Produziert hat Neal Morse sein "One" selbst. Natürlich kann auch er seine Herkunft nicht vertuschen. Die Outputs von Transatlantic und gerade von Spock's Beard klangen schon ähnlich. Kein Wunder, dort war er an den Produktionen zumindest mit beteiligt.
Die zweite CD ist ein wirklicher Bonus. Das Hauptwerk ist bei weitem gut genug, um ohne dieses Gimmick auf dem Markt zu bestehen. Aber immerhin bietet sie noch mal fast 40 Minuten Neal Morse-Musik. Nebenbei bemerkt: eine solche Spielzeit muten uns einige Bands heutzutage noch auf ihren Neuveröffentlichungen zu.
Das Innenleben des CD-Buchs präsentiert die Songtexte - in sowohl von der Größe als auch vom Kontrast gut lesbarem Druck. Fotos von den Musiker und andere stimmungsvolle Bilder warten ebenfalls auf den Betrachter.
"One" ist eine Progressive-Rock-Platte zum staunen und zum genießen. Ich wünschte, diese Platte würde so mancher seinen Kids in die Schule mitgeben - als Hörbeispiele für den Musikunterricht. Die ungläubig aufgerissenen Augen einiger selbstgefälliger Pädagogen und deren verstörte Blicke beim nächsten Elternabend wären Lohn genug.
Viel wurde geschrieben über Neal Morse spirituelle Ausrichtung und seiner Hinwendung zum Christentum.
Völlig egal, wozu auch immer jemand konvertiert, wenn er nur solche Scheiben abliefert - es sei denn natürlich, seine neue Philosophie ist zu ekelig oder zu behämmert.
Trotzdem gibt es zwei Fragen, die mich beschäftigen:
Erstens: Wie lange es noch dauern wird, bis der erste Spaßvogel seine Deckung verlässt und diesen Kram hier mit "White Progressive" oder "Christian Prog" bezeichnet.
Zweitens: Wie die eifrigen Sittenwächter in Übersee reagieren werden, wenn sich der erste Gestörte nach oder bei Genuss des "neuen" Neal Morse weghängt.
Spielzeit: CD1 - 79,55; CD2 - 39,14, Medium: CD, Insideout-Musik, 2004
CD 1: 1:The Creation, 2:The Man's Gone, 3:Author Of Confusion, 4:The Separated Man,5:Cradle To The Grave,6:Help Me/The Spirit of Flesh,7:Father of Forgiveness,8:Reunion
CD 2: 1:Back To The Garden, 2:Nothing To Believe, 3:Cradle To The Grave, 4:King Jesus,5:What is Live,6:Where The Streets have No Name,7:Day After day,8:Chris Carmichael's Aria, 9: I'm Free/Sparks
Olli "Wahn" Wirtz, 16.01.2005
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