Prog-Rock in der Bibelstunde
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Neal Morse, eine der Leitfiguren des Prog-Rock, gibt sich die Ehre: Er spielt eine als kleine, aber feine Tour propagierte Konzertreihe durch holländische, belgische und deutsche Buchhandlungen und Kirchen.
Ein Rock-Konzert in einer Kirche, dessen Veranstalter nicht real music heißt! Kann das gut gehen? Wir versuchen es jedenfalls und brechen an einem Karnevalssamstag aus dem Rheinland auf ins Bergische. Veranstaltungsort ist die Freikirchliche Gemeinde in Wermelskirchen.
Schon beim Betreten der Räumlichkeiten fällt auf, dass das Publikum selbst für ein Neal Morse-Konzert - bezüglich der Altersstruktur - doch sehr gemischt ist. Kleine Kinder (wie sich später herausstellt die von Neal Morse) springen zwischen recht betagten älteren Herrschaften herum. Das Gros des Publikums besteht aber aus Teenagern, offensichtlich hat die Kirchengemeinde mit dieser Veranstaltung was für ihre jungen Mitglieder tun wollen. Für die Älteren wurde eine Hälfte des Zuschauerraumes bestuhlt.
Der Meister selbst betritt, nur begleitet von einem Percussionist, pünktlich um 20:00 Uhr die Bühne, wobei die in diesem Fall wohl eher Kanzel heißt. Zu unserer Verwunderung greift Neal aber mitnichten zur Gitarre oder in die Tasten, nein, er holt zunächst eine Bibel hervor. Die Kirche hat für den der englischen Sprache nicht mächtigen Teil des Publikums einen Übersetzer organisiert. Sicher gut gemeint, aber wie sich später noch herausstellt, wird die Wirkung, die der Prediger Neal Morse beabsichtigt, durch die deutlich weniger espritvolle Modulation des deutschen Sprechers ziemlich zerstört.
Neal beginnt also - nach jedem Satz auf die Übersetzung wartend - die Show damit, ein wenig aus seiner Bibel vorzulesen. Dann erzählt er, er habe keine Set-List für den Abend, er möchte sich von Gott führen lassen. Nach gut 10 Minuten Predigt geht es los mit einem Titel des Spock's Beard Albums "Snow": "Open Wide The Flood Gates".
Neil Morse' Habitus erinnert ein wenig an die Muppet-Show: er hüpft und springt voller Begeisterung, was um so skurriler wirkt, da die Deckenbeleuchtung nicht gedimmt wurde - schließlich sind wir hier nicht in irgendeinem Club!
Wir versuchen trotzdem, all die uns seltsam anmutenden Dinge um uns herum auszublenden: schließlich sind wir wegen der Musik hier. Und wenn Neal Morse dann endlich mal loslegt, entschädigt das für vieles. Die Akustik ist in diesem Gebäude zugegebener maßen ausgezeichnet, Neal's Euphorie gibt seinem Gitarrenspiel und seinem Gesang eine ganz besondere Qualität.
Das Ausblenden der Umgebung funktioniert leider nur für den ersten Song. Gleich danach kommen die bereits erwähnten Kinder auf die Bühne, um mit ihrem Dad zu singen. Das mag ja auf einige Menschen anrührend wirken, aber ich kann den frenetischen Applaus, mit dem die schrägen, quäkenden Kinderstimmen bejubelt werden, wirklich nicht nachvollziehen.
Nach einigen "Sing Halleluja!" gibt es vom letzten Solo-Album "One" den Titel "The Creation: One Mind". Leider kann sich Neal Morse aber nicht auf die Musik konzentrieren, sondern muss uns immer wieder diverse Psalme um die Ohren hauen oder von seinen Erfahrungen mit Gott berichten. So erzählt er, er könne durchaus Konzerte veranstalten, dies wäre aber etwas anderes, er möchte, dass der Geist Gottes hier wirke. Weia! Weiterhin erfahren wir ungefragt, dass es für ihn sehr schmerzlich war, Spock's Beard zu verlassen. Er wollte seine Freunde bei der Band nicht verletzten, musste aber einsehen, dass er mit dieser Art von Musik einen Götzen angebetet habe.
Zwischendurch gibt es aber auch immer wieder ausgezeichnete Musik, so z. B. "The Land Of Beginning Again" vom Solo-Album "Testimony" sowie "Back To The Garden" von "One". Bei "Where Are You?" darf sein Sohn die backing vocals übernehmen, "Craddle To The Grave" wird im Duett vorgetragen.
Bei den "Predigten" versuche ich mir die Zeit zu vertreiben, in dem ich Strichlisten führe, wie oft "PraiseThe Lord" gerufen wird. Bei ca. 20 wurde das dann langweilig. Für - sicherlich nicht beabsichtige - ironische Töne sorgt der Amerikaner Neal Morse, als er inbrünstig verkündet, jeder menschliche Anführer, der ohne Gott schalte und walte, könne nur Chaos verursachen.
Gegen Ende des Sets werden einige - vermutlich, da um mich herum alle mitsingen - Kirchenlieder vorgetragen. Nach gut zwei Stunden, wovon aber wohl nur rund die Hälfte mit Musik gefüllt war, sitzt niemand mehr auf seinem Stuhl. Es gibt ein kollektives Hände in die Luft strecken und ekstatisch mit dem Kopf wackeln (da wird es mir recht gruselig zumute!); als dann noch der Veranstalter der Tour die "Bühne" betritt und von seiner Errettung von seiner Drogensucht durch Gott erzählt, ist unsere Schmerzgrenze erreicht.
Es tut mir leid, wenn das hier Eure Erwartungen an einen Konzertbericht nicht erfüllen sollte, aber was hier abgeliefert wurde war kein Konzert, sondern eine Predigt. Es gibt noch einige Termine in den nächsten Tagen, alle werden kostenlos sein, aber ich kann Euch nur abraten dorthin zu gehen, wenn Ihr nicht absolute "Die-Hard"- NealMorse -Fans seid - oder Christen - oder sonst wie leicht zu beeindruckende spirituelle Zeitgenossen.
Jedenfalls bekommt diese Faust mit gestrecktem kleinen und Zeigefinger, die Ryo Okumoto bei Spock's Beard-Konzerten so gerne reckt, jetzt einen ganz besonderen Sinn...
Neal Morse - Wermelskirchen - Evangelische Freikirche, 05.02.2005
Ella Wirtz, 06.02.2005
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