Wie kann einer bloß so auf der Bühne rumtaumeln, aber noch so 'singen'? Eine gute Stunde lang frag ich mich das, schaue regelmäßig und hauptsächlich in Großaufnahme auf die fehlenden oberen Schneidezähne von Shane MacGowan und warte vergeblich, dass es ihn umwedelt. Ich bin Zeuge einer 'Wild Irish Party', die am 15.7.1995 beim 'Montreuxer Jazz Festival' aufgenommen wurde. Entweder waren wirklich nur die bekannt durstigen 'Paddys' im Saal oder das sonst oft als steif gescholtene Publikum ließ sich von der Band(e) auf der Bühne anstecken.
Auch wohl das Produktionsteam, das sich bei anderen Mitschnitten des Festivals erfreulich resistent gegen die filmische Schnipselmanie zeigte. Nein, für die Bildführung und den Schnitt gibt es nur eine '4'. Der Sound bekommt, weil auf meinem bescheidenen Home-Set die Snaredrum raustönt, eine 'gefühlte 2'. Für den fröhlichen Speed-Sauf-Folk Rock der Popes, ihre hemmungslose Spielfreude samt Können, die Songschreiberfähigkeiten und die erstaunliche Standfestigkeit ihres schwankenden Frontmanns aber eine glatte '1'! Und die Stimme MacGowans ist sowieso eine Extra-Kategorie, da spielt es keine Rolle, ob das Genuschel von den fehlenden Beißern oder möglicherweise von einem Riesenrausch kommt. Der Mann ist die irische Seele in Person, wenn er nur den Mund aufmacht.
Mehr am Mikrophonständer hängend als ihn festhaltend und kaum in der Lage aus den Augen zu gucken, hat er seinen Auftritt aber offensichtlich im Griff. Jede Ansage kommt sofort, kaum dass der Applaus etwas nachlässt, die Einsätze passen und bei seiner Art zu nölen, spielen mehr oder weniger falsche Töne eh keine Rolle. Nein, da fehlt dem guten Shane wirklich nix, er ist für seine Verhältnisse in Form.
Umso knackiger spielen die Popes, die deutlich rockiger agieren, als die legendären, mehr folk-orientierten Pogues. Eine tolle Truppe, die sich überhaupt nicht um den merkwürdigen Zustand ihres Frontmanns kümmert. Wohl auch eine neue Generation, wenn man in die vorwiegend jungen Gesichter schaut. Lediglich Gitarrist Paul McGuinness passt altersmäßig nicht so recht in das Bild (ob er deswegen im Booklet namentlich unterschlagen wurde? Dafür fehlt das Foto von Basser Bernie France.
Ich dachte, nur wir von RockTimes könnten nicht bis 7 zählen?! Auch sollten die Leute von 'Eagle Vision' mal mit ihrer PR-Abteilung reden, die Scheibe spielt tatsächlich 72 und nicht 59 Minuten, wie auf der Homepage angegeben …;-) )
Das Repertoire ist eine Mischung aus Pogues-Klassikern (die mittlerweile schon zur 'Irish Tradition' gehören), Titeln des damaligen SMG & The Popes-Albums "The Snake" und den Covers von Neil Diamonds "Cracklin' Rosie" - zwar amüsant, aber keine Offenbarung - und "Hippy Hippy Shake" von den Swinging Blue Jeans. Das wird noch einmal als Zugabe gespielt und jedes Mal liegt MacGowan dabei auf dem Boden. Ob als Einlage oder als Ergebnis seiner Twistbemühungen, ist leider nicht zu erkennen. Jedenfalls kommt er auch jeweils rechtzeitig ohne fremde Hilfe wieder hoch und screamt die alte Beat-Nummer in bester Jerry Lee Lewis-Manier ins Publikum.
Kaum mehr als eine müde Geste ist jedoch nach dem "Irish Rover" am Ende des regulären Sets sein Versuch, den Mikrophonständer kleinzukriegen, was den Kollegen nur ein Grinsen entlockt. Jedenfalls dürfte der Held froh gewesen sein, dass ihm zu den Zugaben eine neue stabile Stütze hingestellt wurde. Gleich fünf Songs legten die Jungs drauf, bevor dann ihr Frontmann dem Publikum zum dritten Mal "Merry Christmas" (im Juli!) wünschte und von der Bühne wackelte. Lieber tausendmal ein besoffener und zahnloser Shane MacGowan auf der Bühne (selbst wenn er die Gäste u.a. mit "Sieg Heil" begrüßt), als einmal ein stocknüchterner, gestylter und pseudoreligiöses Zeugs psalmodierender Mannheimer Korinthenkacker!
Egal, wie der Saufpoet drauf war, er und seine Popes ließen jedenfalls in Montreux musikalisch die Sau raus und die Jungs hinter MacGowan heizten in bester irischer Manier ein. Nicht immer astrein, aber mit Inbrunst. Und das kommt auch auf der DVD so gut rüber, dass der Rezensent augenblicklich sein malziges 'Huppendorfer' gegen ein bitter-würziges Stout tauschen würde. Aber -"Bruuuno wir kommen!"
Line up:
Shane MacGowan - vocals
Paul McGuinness - guitar
Kieran Kiely - accordion, whistle
Bernie France - bass
Danny Heatley - drums
Tom McManamom - banjo
Johnny Myers - whistle, fiddle
Technik
Bildformat: 4:3
Sound-Formate: DTS Surround Sound, Dolby 5.1 Surround Sound, PCM Stereo
Spielzeit: 72:00, Medium: DVD, Eagle Vision, 2005, Irish Booze
Rock'n'Folk
1:Streams Of Whiskey 2:Donegal Express 3:If I Should Fall From Grace With God 4:Nancy Whiskey 5:Gentleman Soldier 6:Greenland Whale Fisheries 7:A Pair Of Brown Eyes 8:Bring Down The Lamp 9:Cracklin' Rosie 10:The Body Of An American 11:The Broad Majestic Shannon 12:Dark Streets 13:Hippy Hippy Shake 14:The Sick Bed Of Cuchculainn 15:The Irish Rover 16:Back In County Hell 17:Hippy Hippy Shake 18:Sayonara 19:Bottle Of Smoke 20:Sally McLennane
Norbert Neugebauer, 13.06.2006
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