Tony Martin braucht man nicht vorzustellen - und dennoch tue ich es.
Zu Zeiten, als er noch 'The Cat' genannt wurde (aufgrund seiner vermeintlichen Ähnlichkeit zur damaligen Comicfigur 'Catweazle'), krebste der Multiinstrumentalist bei Bands wie Orion rum - bis der Anruf von Tony Iommi kam, und mit ihm sein Sprungbrett bis (fast) an die Spitze des internationalen Metals.
Bei Black Sabbath hatte man sich gerade mit Ray Gillen zerstritten - nachdem man allerdings bereits das neue Album aufgenommen hatte. Kurzerhand wurden also Ray's Gesangsparts gelöscht und Tony Martin's eingefügt. Ein diabolisches Lachen in "Nightmare" ist alles, was auf "Eternal Idol" von 1987 von Ray Gillen geblieben ist. Dieses Album markierte eine Art zweite Renaissance und hatte alles, was ein Black Sabbath-Album ausmacht - verkaufte sich aber sehr schlecht.
Zwei Jahre später hatte Tony dann zum ersten Mal am kreativen Prozess bei Sabbath teilgenommen - "Headless Cross" wurde veröffentlicht; mit einem Mix, der sich etwas mehr an die späten Achtziger anpasste und der besten Gesangsleistung, die je bei Black Sabbath geboten wurde.
Auch on tour konnte Martin die Form halten und zollte allen Klassikern gebührenden Respekt; zwar war schon damals klar, dass seine Frontmann-Fähigkeiten eher zu wünschen übrig lassen; aber wen interessiert das schon - bei dieser Stimme?
Mit "TYR" folgte 1990 ein weiteres Album mit dem Erfinder des Heavy Metal. Zur Zeit der darauffolgenden Tour tourte jedoch auch noch jemand Anders: Ronnie James Dio war unterwegs, um sein letztes Album, "Lock Up The Wolves", unter die Leute zu bringen. Irgendwann erreichte ihn ein Anruf von keinem Geringeren als Geezer Butler, der fragte, ob er ihn mal bei einem seiner Konzerte besuchen könnte. Dio meinte daraufhin: "Du kannst nicht einfach nur herkommen; wenn du kommst, musst du auch spielen!". Lange Rede, kurzer Sinn - nach der Show kam man ins Plaudern über alte Zeiten. Geezer entschuldigte sich für das Missverständnis, das '82 zu Dio's Rauswurf geführt hatte, Ronnie schilderte ihm seine Zukunftspläne und die Abkehr vom "Dungeons & Dragons"-Image - so kam man zu unerwartet vielen Übereinstimmungen. Diese Annäherung wird noch Jahre später von Geezer als "Durchbruch" bezeichnet werden, führte sie doch zur Reunion des "Mob Rules"-Lineups und dem großartigen, modernen "Dehumanizer".
Für unseren Tony führte sie jedoch nur zum Rauswurf. Erstmals bekam er mit aller Härte die Businessorientiertheit von Black Sabbath zu spüren.
Er nutzte die Zeit jedoch - tourte ein bisschen mit Cozy Powell's Hammer (nicht ohne auch an einem bisschen Material mit ihm zu schreiben), und schrieb Songs für sein erstes Soloalbum "Back Where I Belong", was verkaufsmäßig aber ebenfalls eher blass blieb, aber zumindest ein Versprechen Martins erfüllte - es zeigte eine ganz neue Seite an ihm (Randnotiz - Er performte jedoch sogar "If There's A Heaven" bei 'Wetten Dass..?').
Die Reunion brachte indes bei Weitem nicht so viel Geld wie erwartet, man zankte sich außerdem schon wieder mit Dio - und Tony Martin war wieder an Bord.
Die Gesangsleistung auf dem folgenden Album, "Cross Purposes", war gut. Aber auf der Tour im Jahre 1994 geschah es wohl zum ersten Mal, dass die Fans sich die Köpfe kratzten ob Martin's Stimmenverfall. Nummern wie "Symptom Of The Universe", "Headless Cross" oder "Sabbath Bloody Sabbath" waren zuviel für ihn, und Keyboarder Geoff Nicholls machte von nun an von unter der Bühne jeden Abend vor, wie es hätte klingen sollen.
Auf der '95er Scheibe "Forbidden", dem anerkanntermaßen schlechtesten Black Sabbath-Album, war nun auch seine Studioleistung gesunken, und auf der Tour präsentierte er sich noch ein bisschen schlechter als zuvor.
Tony Martin war trotz Allem der Sänger, der nach Ozzy am längsten unter Tony Iommi 'dienen' durfte, und ein Beispiel an Loyalität.
1996 jedoch wussten weder er, noch Bassist Neil Murray, Geoff Nicholls oder Cozy Powell, woran sie waren, denn das Telefon stand still. Sie alle staunten schließlich nicht schlecht, als plötzlich die Reunion mit Ozzy Osbourne angekündigt wurde.
Tony's erfolgreichste Jahre waren nun vorbei. Auch musikalisch wurde es eher ein Auf und Ab; er gastierte auf verschiedenen Projekten wie The Cage, Giuntini, Misha Calvin, Rondinelli oder Empire und tourte mit M3 - Classic Whitesnake und Whole Lotta Metal, Letzteres im Jahre 2004. Augenzeugenberichte von jenen Tours besagen, dass er, inzwischen mit Glatze, nur noch ein Schatten seiner selbst war und nicht mal mehr versuchte, höhere Töne zu erreichen.
2005 markiert nun endlich das Jahr, auf das Tony Martin schon so lange gewartet hat - die Rückkehr mit einem gelungenen Album. Und er überrascht uns auf vielerlei Art.
Los geht's mit dem Opener "Raising Hell", auf dem - ja, man liest richtig - der 1998 nach einem Autounfall verstorbene Cozy Powell Schlagzeug spielt. Von den besagten Sessions mit Cozy und Tony im Jahre 1991 sind nach Angabe Martin's ca. 20 Drumtracks von Cozy übrig. Tony sollte mit ihnen arbeiten und durfte sie im Falle eines Falles verwenden. Dieser Fall ist nun endlich eingetreten.
Die nächste Überraschung: Sein Sohn Joe Harford (Tony Martin heißt eigentlich Tony Harford. ...Was sagt Ihr? Harford ist ein viel coolerer Name? ...Nun, vielleicht wollte er einfach der Verwechslungsgefahr mit Rob Halford aus dem Wege gehen, vor der er ob der neuen Frisur eigentlich erst jetzt hätte Angst haben müssen.), der schon auf "Back Where I Belong" die Gitarren beigesteuert hatte, übernimmt nun den Platz an der Leadgitarre. Dies tut er größtenteils unspektakulär, aber sehr ordentlich und mit einigen netten Soli. Ein Solo wurde allerdings, und das ist für Kenner der Sabbath-Familie die eigentliche Überraschung, von Geezer Butler's Neffen Pedro Howse beigesteuert, der Gitarrist und Nebensongwriter auf dessen Soloalben (zu finden unter G//Z/R, Geezer oder GZR) ist - ohne allerdings jemals ein Solo zu spielen.
Nächste, sehr angenehme Überraschung: Geoff Nicholls! ...Jeder echte Black Sabbath-Fan sollte ob seiner Loyalität (er war auf jedem Album seit "Heaven And Hell", wurde aber für die letzte Tour ersetzt - durch den Sohn von Rick Wakeman...) eine Schwäche für den löwenmähnigen Keyboarder haben, der hier sowohl songwriting-technisch als auch was die Aufnahmen angeht, soviel Input hat wie noch nie; von "Seventh Star" vielleicht mal abgesehen.
Seine Beiträge sind mehr als angenehm, manchmal mit einem Augenzwinkern ("The Kids Of Today"), und stets perfekt passend. Er schafft es mal wieder, 'mannschaftsdienliche' Beiträge zu leisten, ohne sich selbst in den Vordergrund zu spielen.
Letzte Überraschung: Tony selbst. Da hätten wir zum ersten die Tatsache, dass er sich, außer dem Mikro, auch den Bass und die Drumsticks geschnappt hat. Der Bass, das sei zuerst gesagt, ist nicht mehr als solide; das Pflichtprogramm halt.
Zu leider ziemlich großen Teilen gilt dies auch für das Schlagzeug - jedoch überrascht er mit unerwarteter technischer Finesse und kontrolliert zum Beispiel bei "Scream" die Double-Bass mit Können und Präzision. Respekt - übrigens auch für den super Violineneinwurf kurze Zeit später...wir wussten, dass er viele Instrumente spielen kann, aber darauf kann er wirklich stolz sein.
Zum zweiten hätten wir da noch... ach ja, seine Stimme!
Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat. Aber der Tony Martin, der schon vor zehn Jahren ganze Oktaven hat sausen lassen, ist nicht wiederzuerkennen. ...OK, dies ist nur ein Studioalbum, und ob er diese Leistung auch live bringen kann, wage ich zu bezweifeln, aber Fakt ist, dass das seine besten Gesangsparts seit "Cross Purposes" (also 11 Jahren) sind.
Freilich nicht mehr ganz 'The Cat' aus den späten Achtzigern, aber - man glaubt es kaum - fast. Randbemerkung für Hardcore-Fans: Das "Wake Up!" aus dem Refrain von "Field Of Lies" ist tatsächlich derselbe Ton wie der des berühmten "Rise Up!" von "The Shining" aus dem Jahre 1987. Zumindest im Studio ist Tony Martin also stimmlich wieder auf der Höhe und hat den rasanten Verlust seines Stimmumfangs nicht nur gestoppt, sondern sich in der Tat mehr als nur ein paar Halbtöne zurückerkämpft.
Als letztem Punkt bin ich für meinen Teil sehr froh, dass ich nach Tony's erstem Soloalbum und den Ausflügen in leichtere Gefilde die Bezeichnung "Heavy Metal", und nicht "Melodic Rock" geben kann. Hundertprozentig hatte Geezer Butler also anno 1996 nicht Recht, als er sagte "Tony Martin hates all heavy music". Die Songs sind abwechslungsreich und erinnern, obwohl wenig echte Riffs vorhanden sind, oft an Black Sabbath. Besonders "Bitter Sweet" wirkt wie eine kantigere Version von "Virtual Death".
Ansonsten ist "Scream" nicht der neue Stein der Weisen in Sachen Rock, und auch nicht das nächste seicht dahinplätschernde Projekt. Die Wahrhheit liegt dazwischen - ein grundsolides, unterhaltsames, rockiges Stück Tony Martin, und mit Sicherheit das beste seiner 'nicht-Sabbath-Alben'.
Ursprünglich war eine Trilogie mit dem Titel "Clean, Mean & Scream" mit Teilen aller seiner Einflüsse geplant gewesen; diese Idee erwies sich jedoch als zu massiv für ein Soloprojekt.
Viele Fans verlangten jedoch endlich wieder nach einer härteren Gangart, und da er sich auf einen Stil festlegen musste, bin ich froh, dass es "Scream" geworden ist.
Spielzeit: 43:38, Medium: CD, MTM Music, 2005
1:Raising Hell (4:41) 2:Bitter Sweet (4:56) 3:Faith In Madness (5:34) 4:I'm Gonna Live Forever (4:29) 5:Scream (5:08) 6:Surely Love Is Dead (5:04) 7:The Kids Of Today (Don't Understand The Blues) (4:09) 8:Wherever You Go (3:00) 9:Field Of Lies (6:37)
Christoph Segebard, 16.11.2005
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