"Sugaring Season", frei übersetzt etwa 'Zuckerzeit' - solch ein Titel weckt erst einmal Assoziationen von süßlichem Rustikalkitsch. Naive Malerei etwa, die von Schnee überpuderte, ländliche Szenen in augenschmeichelnde Pastelltöne packt. Oder, im musikalischen Sinne könnte man an überproduziertes, schmalztriefendes Easy Listening-Gedudel denken… »die schönsten weihnachtlichen Melodien, interpretiert von Hugo Strasser und seinen Freunden« oder so. Im Falle des neuesten Albums von Beth Orton sind diese Gedankenspielereien allerdings völlig fehlgeleitet und führen prompt in die Sackgasse. Denn von schwülstigem Geplänkel und belanglosem Tralala ist das Werk Lichtjahre entfernt. Ich würde für diese CD gar meine Camel-Boots anlegen und meilenweit gehen, um den Silberling zu ergattern.
"Sugaring Season" hat alles, was ein gutes Singer/Songwriter-Album ausmacht und es zeigt sich mal wieder die Crux des Kritikers: Je weiter das zu besprechende Opus sich von gängigen Klischees entfernt, desto mehr bleiben dem Rezensenten nur ebensolche übrig, um das Werk zu beschreiben.
Greifen wir also mal wieder in die angestaubten Schubladen feuilletonistischer Phrasen: Die Songs auf "Sugaring Season" gehen allesamt unter die Haut. Lyrisch ist Beth Orton eine echte Künstlerin, die mit Worten eindrucksvolle Bilder malt. In ihren Arrangements stecken Einfallsreichtum und sie bewegt sich traumwandlerisch zwischen unterschiedlichen Stilistiken, je nach gewünschtem Ausdruck von Gefühlen, Gedanken und Befindlichkeiten. Zur Unterstützung hat sie sich wahre Virtuosen und Studiocracks an die Seite geholt, um ihre kleinen Kunstwerke aus Text und Melodie angemessen auf Tonträger zu bannen. Ihr Gitarrenspiel erscheint nur beim ersten Anhören schlicht, doch es ist das passende Fundament für die eindrucksvollen Nummern zwischen Folk, Rock und Pop. Vor allem ihre Stimme aber erzeugt jenen angenehmen Gänsehaut-Effekt, der die vorliegende CD zu einem Ausnahmewerk macht. Man wird "Sugaring Season" immer wieder gerne hören und das Vergnügen wird jedes Mal ein Lohnendes sein.
Tja - sicherlich wäre die Platte damit richtig beschrieben - aber würden diese Worte der "Sugaring Season" auch wirklich gerecht? Ich denke: Nein!
Die Faszination, die dieses Werk und auch das Charisma der Sängerin und Autorin hier erzeugen, sind einfach schwer in Worte zu fassen. Zu intim sind die seelischen Einblicke, zu intensiv die heraufbeschworenen Gefühle. Vergleiche hinken… am ehesten könnte man noch Ähnlichkeiten von Beth Ortons Stimme mit der von Buffy Sainte-Marie feststellen; ansatzweise weckt ihre Phrasierung auch Erinnerungen an Joni Mitchell und doch singt hier jemand auf ganz eigene, unverwechselbare Art und Weise. Man wird das Gefühl nicht los, dass Beth stetig mit ihrer Stimme experimentiert und bemüht ist, deren Ausdrucksmöglichkeiten immer neu zu erweitern sowie ihre stilistischen Mittel auszuloten. An ihre Grenzen ist sie dabei wahrscheinlich noch nicht einmal gestoßen. Es bleibt also spannend, in welche Höhen sie sich noch schwingen wird.
Beth Ortons Lyrics reflektieren das Leben und sind von solcher Tiefe, dass der aufmerksame Hörer bald erkennt: man hat es hier nicht mit einer Künstlerin zu tun, die von ihrem Elfenbeinturm aus über Dinge sinniert, von denen sie eigentlich keine Ahnung hat. Ebensowenig wird hier irgendwelchen Trends oder vordergründiger Radiotauglichkeit nachgehechelt. Beth Orton hat wirklich etwas zu erzählen und das Singen und Schreiben eigener Songs wurde ihr nicht in die Wiege gelegt. Ihre Biographie zeigt deutlich, dass diese Frau weiß, wovon sie singt.
Geboren wurde sie 1970 in England und wuchs in der ländlichen Umgebung einer Schweinefarm auf. Ihre Mutter war nicht nur politische Aktivistin und Künstlerin, sondern eben auch Bäuerin. Der Vater verließ die Familie, als die Tochter mal gerade elf Jahre alt war. Mit 15 zog Beth nach London. Als ihre Mutter 1989 starb, ging die junge Frau nach Thailand und lebte bei buddhistischen Nonnen. Zurück in England arbeitete sie als Pizzaverkäuferin und eröffnete einen eigenen Catering Service. Zu künstlerischem Schaffen kam sie über den Umweg der Schauspielerei. Mit einer kleinen Theatergruppe tourte sie nicht nur in England, sondern auch durch Russland und die Ukraine. Wie die Legende es will, fragte sie eines Tages der Produzent William Orbit in einem Londoner Nachtclub nach einer Zigarette. Ein Gespräch entspann sich und Orbit wollte Orton als Schauspielerin engagieren. Sie sollte für ein Musikprojekt die Sprachanteile übernehmen. Dabei begann sie dann aber doch zu singen.
Eine musikalische und menschliche Partnerschaft nahm ihren Lauf und bald veröffentlichte Beth Orton auch eigene Soloalben. Diese waren noch geprägt von der Verbindungg folkiger, akustischer Elemente mit elektronischen Sounds. Auch nach der Trennung von Orbit blieb die kreative Sängerin im Geschäft. Allerdings datiert ihr vorerst letztes Album aus jenen Zeiten auf das Jahr 2006.
Beth Orton nahm sich eine lange Auszeit von rund sechs Jahren, in der sie u. a. heiratete und Mutter zweier Kinder wurde. Mit "Sugaring Season" meldet sie sich nun zurück und präsentiert sich als gereifte, glaubwürdige Sängerin. Die Inhalte ihrer Songs schöpft sie aus ihrem erfahrungsreichen Leben. Texte und Kompositionen für dieses Album entstanden zudem meist bei Nacht, da sie die intensive Athmosphäre und Stille dieser Stunden schätzt und höchst inspirierend findet. Auf elektronische Gimmicks wurde bei "Sugaring Season" völlig verzichtet. Die eigenwillige Künstlerin steht hier fest auf dem Boden von Folk und Acoustic Rock. Ihre Mitstreiter ergänzen Ortons Songs nicht nur, sie bereichern die eindrucksvollen Melodien mit einfühlsamen Licks und Soli, bilden ein tragendes Fundament für jede einzelne dieser kostbaren Miniaturen. Auch die Produktion selbst ist astrein und präsentiert ein transparentes, homogenes Klangbild. Und damit gelangt der Rezensent wieder mal zu jenen Klischees, die ihn überfallen, wenn ein Stück Musik ihn nahezu sprachlos hinterlässt. Bleibt letztlich nur die Hoffnung, Beth Orton irgendwann mal live zu erleben. Und da heißt es dann eben: Tourpläne studieren - und bis dahin wird sich "Sugaring Season" wohl noch des Öfteren im heimischen CD-Player drehen.
Line-up:
Beth Orton (vocals, acoustic guitar)
Rob Burger (piano, harmonium, pump organ, Wurlitzer, accordion)
Brian Blade (drums and percussion)
Sebastian Steinberg (acoustic and electric guitar)
With:
Eyvind Kang (viola - #1,10)
Ted Barnes (acoustic guitar - #5,6, banjo - #7)
Laura Veirs (backing vocals - #1,2,9)
Sam Amidon (Gibson archtop - #2,5,9, Nashville strung guitar - #1, violin and backing vocals - #6, organ - #10)
Marc Ribot (nylon string guitar - #3, electric guitar - #1,4)
Nate Query (bass - #7, additional bass - #1)
Carl Broemel (electric guitar - #1)
Tucker Martine (percussion - #9)
Rob Moose (string arrangement - #3,9)
Oliver Kraus and Beki Doe (string arrangemnet - #4,8)
Nico Muhly (string arrangement - #7)
String players (Rob Moose, Caroline Shaw, Yuki Numata)
Ben Russell (violin)
Nadia Sirota (viola)
Clarice Jensen (cello)
Tracklist |
01:Magpie (4:32)
02:Dawn Chorus (3:23)
03:Candles (3:45)
04:Something More Beautiful (3:27)
05:Call Me The Breeze (3:52)
06:Poison Tree (4:05)
07:See Through Blue (1:52)
08:Last Leaves Of Autumn (4:00)
09:State Of Grace (4:14)
10:Mystery (4:07)
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Externe Links:
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