Gram Parsons / The Complete Reprise Sessions
The Complete Reprise Sessions
Als mir der Postbote vor kurzem ein Päckchen brachte, bei dem ich schon eine starke Ahnung hatte, was sich darin befinden würde, fiel ich zuerst dem guten (etwas verdutzten) Mann um den Hals und anschließend auf die Knie, um allen guten Mächten ausgiebig für diese Lieferung zu danken. Eine 3 CD-Box mit allen Aufnahmen, die Gram Parsons für seine Solo-Alben eingespielt hatte.
Bereits lange, lange überfällig und dazu jetzt auch noch remastert und mit vielen Bonustracks versehen eine wahre Schatztruhe, die ich an diesem Tag sogar mit zur Arbeit nahm.
Wohlgemerkt ohne sie dort anhören zu können. Aber der Gedanke, die Box nicht nahe bei mir zu haben war schlicht und ergreifend unerträglich. Warum musste es so lange dauern, bis die Musikwelt auf diesen Mann aufmerksam wurde?
Die so genannte Öffentlichkeit hatte Gram Parsons zu dessen Lebzeiten nie wahrgenommen. Und selbst nach seinem frühen Tod im September 1973 dauerte es noch viele, viele Jahre, bis ihm der eigentlich immer noch zu geringe Tribut gezollt wurde, den er von Anfang an verdient gehabt hätte.
Nach seinem ersten (geglückten) Versuch Country und Rock 'n' Roll mit dem Album "Safe At Home" der International Submarine Band zu vereinen, dieses schon ganz erstaunlich starke Werk aber wie Blei in den Regalen der Plattenshops liegen blieb, wurde er kurz darauf Mitglied bei den Byrds. Von seiner musikalischen Vision getrieben, krempelte er dort erstmal gehörig die Machtstrukturen um und trieb die Band zu "Sweetheart Of The Rodeo", das als erstes Country-Rock Album und nicht mehr wegzudenkender Meilenstein in die Musikgeschichte eingehen sollte.
Nach seinem Ausstieg bei den Byrds warb er kurze Zeit später auch Chris Hillman von seiner Ex-Band ab, um dann gemeinsam die Flying Burrito Brothers zu gründen. Ein Hammeralbum ("The Guilded Palace Of Sin", 1969) und ein eher durchwachsener Nachfolger ("Burrito Deluxe", 1970) wurden eingespielt. Immerhin kann "Burrito Deluxe" aber die Erstveröffentlichung des Stones -Songs "Wild Horses" vorweisen, den ihm sein sehr guter Freund, Keith Richards, überlassen hatte.
Danach ließ sich Parsons erstmal eine Weile von seinen inneren Dämonen treiben. Sein Vater hatte Selbstmord begangen, als Gram ein angehender Teenager war und seine Mutter starb, als er von der Highschool abging. Abseits der Musik versuchte er über die Jahre immer mehr, das große, unendlich scheinende Vakuum in seiner Seele mit Alkohol und Drogen zu füllen.
Aber um es mal auf gut deutsch zu sagen:
Irgendwann war der Punkt gekommen, wo er sich sagen musste: »Schnaps ist Schnaps und Dienst ist Dienst.«
Im Jahr 1972 unterzeichnete er einen Deal für seine Solo-Karriere, verpflichtete mit James Burton (Gitarre), Glen D. Hardin (Piano, Organ) und Ronnie Tutt an den Drums (alle aus Elvis Presleys Band), sowie u.a. Byron Berline (Fiddle) und Al Perkins (Pedal Steel) die feinsten Studio-Asse und hatte ein Jahr zuvor Emmylou Harris entdeckt, die seine perfekte Gesangspartnerin darstellte.
Das erste Solo-Album, schlicht "G.P." betitelt, startet mit dem Country-Rocker schlechthin, ein Song namens "Still Feeling Blue". Treibendes Schlagzeug, klasse Gitarren- und Bass-Arbeit, ganz starker Gesang und unterlegt von Emmylou Harris' perfektem Harmonie-Gesang, Banjo und Fiddle dürfte dieses Stück wohl als Blueprint für jede Band dienen, die sich auch nur annähernd ernsthaft damit beschäftigt, Country-Rock spielen zu wollen.
Bei "We'll Sweep Out The Ashes" teilt sich Gram den Gesang mit Emmylou in einem Song über Ehebruch, der aufgrund ungezügelter Leidenschaft unvermeidbar ist, am Ende immer ein schlechtes Gewissen hinterlässt und dennoch nicht zu stoppen ist. Es gibt nicht gerade wenige Stimmen, die behaupten, dass es in diesem Song direkt um die beiden Sänger geht, was Emmylou Harris bis heute (zumindest öffentlich) aber heftig bestreitet.
"G.P." ist eine geniale Mischung aus Eigenkompositionen Parsons und Cover-Songs, die wie für ihn geschrieben erscheinen. Gram 'God's Own Singer' Parsons singt tatsächlich wie ein junger Gott, bringt sowohl die Rocker mehr als überzeugend und die Balladen sind einfach nur zum Weinen schön. Kein Zweifel, der Mann hatte seine Probleme. Ansonsten wäre es wohl auch nicht möglich gewesen, die Songs mit diesem einzigartigen Feeling zu bringen, dass man als Zuhörer nicht mehr weiß, ob man vor Begeisterung ausflippen oder einfach nur zu heulen anfangen soll.
Von den Rockern muss unbedingt noch "Big Mouth Blues" erwähnt werden und bei den ruhigeren Stücken glänzen vor allem "Streets Of Baltimore", "The New Soft Shoe" und "Cry One More Time". Als Bonustracks auf CD 1 gibt es die Original Radio-Promo zu "G.P.", sowie faszinierende, da erstmals überhaupt veröffentlichte Radio-Interviews. Und zum Schluss eine kleine Session mit Gram und Emmylou in eben diesem Radio-Studio.
Leider fällt die Sound-Qualität bei diesen beiden Stücke stark ab, wobei es einem trotzdem das Herz aufgehen lässt, die beiden Vokalisten aus dem Stehgreif nahezu perfekt harmonieren hören zu können.
Auf CD 2 befindet sich Parsons zweites (und leider letztes) Solo-Album "Grievous Angel", dessen Veröffentlichung (im Januar 1974) er selbst durch seinen frühen Tod gar nicht mehr erlebte. Der Opener "Return Of The Grievous Angel" ist ein Paradebeispiel für einen perfekten Song, wie er besser einfach nicht dargeboten werden kann (als einziges anderes Beispiel aus dieser groben Richtung und Zeit fällt mir ansonsten nur noch "Ramblin' Man" von den Allman Brothers ein. Technisch erstklassig eingespielt und mit tonnenweise Feeling versehen. Der Harmonie-Gesang von Gram und Emmylou erreicht hier einen seiner definitiven Höhepunkte.
Insgesamt wird wieder eine ausgewogene Mischung aus Rockern und Balladen geboten und jeder Song des Albums ist ein Klassiker, nicht mehr und nicht weniger. Wenn man ansonsten noch einen Track herausheben muss, dann das sehr fragile und schmerzerfüllte "Love Hurts", das (sorry, Nazareth) einfach die ultimative Version dieser Nummer darstellt.
Die Bonustracks auf CD 2 bestehen aus einer Instrumental-Version von "Return Of The Grievous Angel" und weiteren, sowohl witzigen, als auch sehr informativen Radio-Interviews, die wie schon die anderen auf CD 1, sehr gut und klar verständlich sind. Und zu der erwähnten Instrumental-Version: Unglaublich, wie gut die Band ist und was in dem Song musikalisch alles passiert. Erst richtig deutlich hier, da man sich bei der Original-Version ja doch meist auf den Gesang konzentriert.
Wobei wir bei CD 3 und dem für Fans als definitive Goldgrube zu bezeichnenden Teil angekommen wären. 15 Alternativ-Versionen von Nummern der beiden Alben (jeweils sieben von "G.P." und "Grievous Angel"), die mir immer noch die Nackenhaare senkrecht stehen lassen. Im Prinzip abgespeckte, unproduzierte Versionen, sprich Demos, mit sehr gutem Sound. Man hat das Gefühl, noch näher an die Kultfigur Parsons heranzukommen und bezüglich des Sounds kommt es einem hier manchmal so vor, als würde man selbst in der Küche stehen, während Parsons leibhaftig nebenan im Wohnzimmer zusammen mit Emmylou seine Songs zelebriert.
Die Arrangements standen zu diesem Zeitpunkt schon, dennoch ist es einfach nur göttlich, der sogenannten "Work In Progress" beiwohnen zu dürfen. Ein wahres Paradies!
Abgeschlossen wird diese wunderschön aufgemachte Box, die jedes Album mit seinem Original LP-Cover ausstattet und über ein klasse Booklet mit allen Infos verfügt, von drei fertig gestellten Stücken, die jedoch zu Outtakes von "Grievous Angel" wurden. "Brandnew Heartache", "Sleepless Nights" und "The Angels Rejoiced Last Night" sind vor Jahren zwar bereits auf einer LP-Compilation erschienen, gewinnen hier aber durch den remasterten Sound enorm. Genau wie alle Songs der beiden offiziellen Alben, die bereits Anfang der 90er mal auf CD erschienen sind. Sehr, sehr gute Arbeit.
Man kann diese Art von Musik, der die Eagles kurze Zeit später sämtliche Integrität geraubt haben, nicht besser umsetzen, als Gram Parsons es zu seiner Zeit getan hat. Absolut essenziell! Wer's an sich vorbeigehen lässt, ist selbst schuld.
Aber das Schlusswort soll Emmylou Harris gehören, die nach Grams Tod eine Solo-Karriere begann, die sie über die Jahre zur Königin der Country Musik werden ließ.
»Diese Box bringt mir sehr viele Erinnerungen an eine ganz spezielle Zeit, vor allem aber an Gram zurück. Ein außergewöhnlicher junger Mann, der, weit mehr als irgendeine andere Person, mein Leben verändert und mich auf einen erstaunlichen Weg geführt hat, den ich selbst nie gefunden hätte.
Die Geschichte der von ihm aufgenommenen Musik endet hier, aber das Genie und die Seele von Gram Parsons wird unendlich länger mit uns sein, als sein kurzes, tragisches Leben gedauert hat.«


Spielzeit: 56:06 Minuten (CD 1), 44:27 Minuten (CD 2), 62:00 Minuten (CD 3), Medium: CD-Box, Reprise Records, 2006, Country Rock
CD 1: 1:Still Feeling Blue 2:We'll Sweep Out The Ashes In The Morning 3:A Song For You 4:Streets Of Baltimore 5:She 6:That's All It Took 7:The New Soft Shoe 8:Kiss The Children 9:Cry One More Time 10:How Much I've Lied 11:Big Mouth Blues
Bonustracks: 12:"G.P." Radio-Promo 13:-15: Radio-Interviews 16:WBCN Interview with Maxine Sartori 17:Love Hurts (Live on WBCN) 18:Sin City (Live on WBCN)

CD 2: 1:Return Of The Grievous Angel 2:Hearts On Fire 3:I Can't Dance 4:Brass Buttons 5:$1000 Wedding 6:Medley Live From Northern Quebec - Cash On The Barrelhead/Hickory Wind 7:Love Hurts 8:Ooh Las Vegas 9:In My Hour Of Darkness
Bonustracks: 10:Return Of The Grievous Angel (Instrumental) 11:-12: Radio-Interviews

CD 3: 1:She 2:That's All It Took 3:Still Feeling Blue 4:Kiss The Children 5:Streets Of Baltimore 6: We'll Sweep Out The Ashes In The Morning 7:The New Soft Shoe 8:Return Of The Grievous Angel 9:In My Hour Of Darkness 10:Ooh Las Vegas 11:I Can't Dance 12:Sleepless Nights 13:Love Hurts 14:Brass Buttons 15:Hickory Wind 16:Brand New Heartache 17:Sleepless Nights 18:The Angels Rejoiced Last Night
Markus Kerren, 29.07.2006