Pegelia Gold & Art Zentral / Polaris
Polaris Spielzeit: 64:02
Medium: CD
Label: Unit Records, Harmonia Mundi, 2013
Stil: Avantgarde, Jazz


Review vom 24.03.2013


Ingolf Schmock
Am Ende aller Tristesse einer wohl nicht wirklich geliebten Jahreszeit, deren übermächtiger grauer Mantel des Lebens Energien zu narkotisieren scheint, erwächst gleichwohl eine menschliche Gier nach ganzen himmlischen Heerscharen lichtdurchfluteter Augenblicke und Frühblüher erweckender Gesänge. Dass man mit tönenden Kräften der Düsternis und Sehnsüchte erweckender Poesie dem nahenden Frühlingserwachen dennoch vereinzelte Sonnenstrahlen in musikgeneigte Herzen zu pflanzen vermag und mit kommerzverschmähenden Hörbildern obendrein eine schier fesselnde Ästhetik beschwört, zählt wohl hierzulande als ein unbestrittenes Novum.
Eine mit sirenenhafter Sinnlichkeit und bizarren Sangeskünsten gesalbte Thüringerin, samt ihrer instrumental bestens aufgestellten Gefolgschaft, gelingt es dennoch, den Zuhörer mit pointierten Kunstliedern, folkartigem Minnegesang und bleiernen Kameraarrangements in ein seltsam angenehmes und musikalisch kaleidoskopenes Paralleluniversum zu entführen. Die über weite Strecken erfrischend desorientierten und vom romantischen Zauber trunkenen Kompositionsgebilde offenbaren tiefe Einblicke in die unheimlichen, von exzentrischer Schönheit zerrissenen Gefühlslandschaften einer weiblich verstimmten und verwundeten Seele. Pegelias hypnotische Schwere und bittersüße Poesie ihrer Songs und ihr ätherisch eindringlicher Gesang streifen gespenstisch und voll luftiger Leidenschaft durch die unwirtlichen Grabkammern Mahlerscher und mit freigeistigem Jazzblut geweihter Devotionalien. Es gelingt ihr unter Zuhilfenahme mäandernder Singlärchen und feierlicher Quetschkommoden durchaus, das aus Quellen idiosynkratischer Musikalchemisten gespeiste und vom exemplarisch gemeinen Hörbrei verkaufsgeifernder Industrie-Ödnis schamlos entsagte Stimmungssurrogat mit majestätischem Weihen zu versehen. Die kryptisch fragilen Oden der traumwandelnden Chanteuse gebieten nach tiefer Einkehr, gleichsam als berührende Liebeserklärungen und therapierende Appelle an die heilende Kraft allen Ursprungs, gewähren diese in gerade jenen von aufflackerndem Trübsinn verstimmten teutonischen Raunächten einen wärmenden Unterschlupf.
Auch wenn sich der bewegliche Klangkörper gern abseits der Normen bewegt, so versöhnt dieser dennoch die brodelnden Energien des freiräumlichen Jazz und instrumental hüftsteifen Mätzchen Zappa-esker Prägung mit Pegelias freskenmalerisch-romantisierender Sangesfolklore und den manierierten Ausbrüchen sakraler Kleinmädchenchoräle. Über weite Strecken komplettiert diese förmlich die unkonventionellen, jedoch melancholisch grundierten Stücke, welche man bildungsbürgerlich recht wertvoll finden kann, mit fiebriger Litanei und ficht dabei scheinbar ihren kehligen Kampf mit den Elementen. Die mit musikalisch akademischen Botenstoffen wohlversorgte Combo evoziert bisweilen ihren eigenen eklektischen Stil und dringt zudem unüberhörbar zwischen verwunschenen Klangdickichten avantgardistischer Signaturen, Freejazz-entlehnter Effekthascherei und ornamentaler Volksweisen. Mal puderzuckersüß, mal grobkörnig, mal wie eine Waldorfsche Semesterarbeit, so lavieren sich die Protagonisten und ihr teils Orff'sches Instrumentarium durch ein Grenzzäune deflorierendes Schichtwerk von provokant rätselhaften und poesieexpandierenden Songzyklen. So ist es nicht verwunderlich, dass sich die kompakte Wahrnehmung der nimmer erschöpfenden Kompositionen von Hören zu Hören verändert, der sprudelnde Quell einer von Inspirationswust geschüttelten Künstlerin sowie ihre gar schamanischen Vermittlungsversuche zwischen Feingefühl und Radikalität den mit musischer Zirbeldrüse ausgestatteten Konsumenten spielerisch umgarnen.
Eine Reihe Multitasking-Instrumentalisten und die scheinbar vom Sud geheimnisvoller Pilze genährte Anarcho-Sirene behandeln die Töne eklatant mit bastlerischer Sorgfalt und destillieren den unentwirrbar geltenden ektoplasmischen Schleim unglaublich visionärer, sowie streitbarer Musikusse und pedanter Klangmonteure zu einer auf zarten Leib maßgeschneiderten, jedoch autonomen Kunstform. Zweifelsohne fordert "Polaris" die vollendete Aufmerksamkeit des Zuhörers, um die wortgewandte und weltsprachig konzipierte Komplexität zu erfassen, um sich zu Kreuze kriechend jener kammermusikalischen Mixtur von Weihrauch und Tollkirschen auszuliefern.
Den Würzburgern und ihrer polarisierenden Liedgut-Modulistin gelang mit dem Zweitling nicht nur der erneute Versuch, Traditionelles mit dem Kreativüberschuss der Avantgarde im Weltenschmerz zu vermählen, sondern auch musikantisch stiefmütterliche und von elitären Flüchen belegte Refugien zu erbrechen. Die akustischen Referenzen dieses vom Bayerischen Rundfunk co-produzierten Silberlings sind getrost unter der Kategorie à la bonne heure einzuordnen und Streicheleinheiten fürs heimische High-End-Equipment gleichsam so sicher, wie die nahenden Boten einer Teilchen bestrahlteren Saison.
Line-up:
Peggy Herzog alias Pegelia Gold (vocals)
Dirk Rumig (flute, bass clarinet)
Moritz Cartheuser (guitar)
Alexander Wienand (piano, celeste, pump organ)
Constantin Herzog (bass)
Daniel Prätzlich (drums, glockenspiel)
Misa (vocals - #1, 2, 4) [guest]
Irmi Haager (choir)
Christine Börsch-Supan (choir)
Rayka Wehner (choir)
Pegelia Gold (choir)
Marija Kandic (accordion) [guest]
Stefanie Mirwald (accordion) [guest]
Tracklist
01:El Portal
02:Animalia State
03:Metamorphosen
04:All The Elements
05:Wanderlust
06:Someone
07:The Force Of Senses
08:Polaris
09:Zeichenschleier(Bonus Track)
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