Pocket Orchestra / Phoenix
Phoenix Spielzeit: 79:02 (CD1), 79:21 (CD2)
Medium: Do-CD
Label: Altrock Records, 2011
Stil: Avantgarde Pop

Review vom 04.01.2012


Wolfgang Giese
Für einige mag auf diesen beiden CDs - eine im Studio, eine live aufgenommen - der Wahnsinn ausgebrochen sein. Das Pocket Orchestra gilt als Kultband aus den USA und 2005 kam es zu einer Plattenveröffentlichung in Israel. "Knebnagäuje" hieß das Album und zunächst auch die Band um den Gitarristen Tim Parr. Diese Aufnahmen stammen aus den Jahren 1978 und 1979. Sie werden auf der ersten CD von Track fünf bis neun dargeboten. Die Titel eins bis vier stammen dann wirklich von der zwischenzeitlich in Pocket Orchestra umbenannten Band, diesmal aus dem Jahr 1983. Dazu werden unveröffentlichte Live-Titel - zwischen 1980 und 1984 aufgenommen - auf einer zweiten CD präsentiert, die den Gesamt-Output des Pocket Orchestras abrunden.
Bereits nach den ersten Takten vernehme ich jene kompliziert aufgebaute Musik, wie man sie von Frank Zappa bisweilen kannte. Doch auch Capillary Action oder Henry Cow möchte ich als Vergleich heranziehen. Das heißt mit anderen Worten: keine leicht konsumierbare Musik, sondern solche, die polarisieren könnte. Durch die enge Verknüpfung zum Jazz würden mich Äußerungen wie 'Das soll Musik sein?' oder 'Auf ihren Instrumenten können die auch nicht richtig spielen' nicht wundern. Aber als Liebhaber des Jazz ist mir so etwas nicht unbekannt und solche Aussagen scheinen mir anstatt von Kenntnis eher von Intoleranz und dem Unvermögen zu zeugen, einmal über den Tellerrand zu schauen oder ganz einfach einmal hinter Türen zu schauen, ohne zu wissen, was einen dahinter erwartet.
Bereits innerhalb von eineinhalb Minuten des Eröffnungstitels passiert so viel, wie in manchen episch ausgewälzten Prog Rock-Stücken nicht. Gitarre, Klarinette, Bass und Schlagzeug scheinen ein Thema gestalten zu wollen, das schon nach noch nicht mal einer Minute durch Streicher unterbrochen wird, um dann kurze Zeit später in so etwas wie ein Polkathema überzugehen - aber nur kurz, um dann in eine jazzrockige Atmosphäre mit hektischem Anstrich und wilden Soli von Gitarre und Geige weiter zu marschieren. Man bedenke, es sind noch keine drei Minuten vergangen, ein Saxofonsolo folgt und genau hier erinnert mich die Musik an die von Frank Zappa und sein Album "Uncle Meat". Dabei bleibt es trotz aller vermeintlichen Unzugänglichkeit in gewisser Weise irgendwie vertraut. Man kann sich sicher sein, dass hinter diesen Klängen reifliche Überlegung steckt.
Der zweite Titel beginnt verhaltener und verstrickt sich in verschachtelte Kollagen, die verschiedene Stimmungen widerspiegeln. Sehr stark sind erneut die jazzrockigen Passagen, die Liebhaber jener Richtung stark ansprechen dürften.
Die erste CD der Band um Tim Parr - vormals Knebnagäuje genannt - beginnt jedoch (wie eingangs erwähnt) erst mit dem fünften Stück und so ist der Unterschied einiger Jahre doch zu bemerken. Die klare, perkussiv wirkende Gitarre fällt auf - die Musik ist noch weniger elegant, etwas rauer und roher im Ausdruck, doch nicht minder abwechslungsreich. Avantgardistische Züge scheinen mir hier noch stärker ausgeprägt zu sein. Mir persönlich liegen jedoch die Aufnahmen von 1983 mehr. Das, was auf jenen perfektioniert wurde, befindet sich hier noch eher im Erprobungsstadium.
Zu Beginn des siebten Stückes wird die Stimmung mittels einer bekannten Jahrmarktmelodie, die in den schweren Sound eingebunden wird, gar lustig. Die Nerven manch eines Hörers mögen hier leicht flattrig werden, weil das wohl nicht alle verkraften können. Für mich jedoch eine 'leichte Übung', denn die Vielfalt bei den älteren Aufnahmen lässt mich aufhorchen. Eine kurz eingestreute Flötenpassage, ein kleiner Basslauf, eine funkige Attitüde, ein flinkes Pianosolo, perkussive Momente: alles Attribute, die das Ungewöhnliche dieser Formation darstellen. Auf "Bagon" erinnere ich mich sogleich an
Return To Forever und ihre Musik aus den Siebzigern. Dies ist ein sehr interessanter Titel von angenehmer Länge, die dazu führt, dass wirklich viel passiert. Die Gitarre darf auch mal ausflippen und das Saxofon kräftig meckern. Zwischendurch sich in ein zähes Klanggefüge entwickelnd, wird die Luftigkeit doch stets wieder hervorgezaubert.
Mit der zweiten CD wird es 'live'. Hierbei kann man oft erst beurteilen, wie sich die Qualität einer Band bemisst. Mit punkig anmutendem Schlagzeug beginnt der erste Song und doch setzt sogleich die aus dem Studio bekannte Vielfalt ein. So scheinen die Musiker keine Mühe zu haben, plötzlich auf einen von der Orgel geführten Blues umzuspringen, um sich danach wieder in einem freien Raum zu lösen, von Entdeckungen und Überraschungen geprägt - auf das Unvorhergesehene sollte man hier stets gefasst sein. So wird natürlich auch die Gelegenheit für ein Schlagzeugsolo auf "Bagon/Wandering Aimlessly" genutzt, wo auch mal die Gitarre kräftig 'brodelt'
Das ist keine bequeme Musik für die Entspannung auf der Couch. Wenn man aber bereit ist, Körper und Geist zu öffnen, wird man sich möglicherweise dabei ertappen, wie die Extremitäten außer Kontrolle geraten. Abstrakt, schräg, ungewöhnlich, spannend - das alles passt auf die Musik des Pocket Orchestras, live wohl noch einen Tick mehr.
Line-up:
CD 1:
Tim Parr (guitars)
Rob Stearman (drums)
Craig Bark (keyboards)
Tim Lyons (bass)
Joe 'Joe Who' Halajan (saxes, clarinets, incidental vocals)
Bill Johnson (cello)
Craig Fry (flute - #7)
Warren Ashford (tablas - #7)

CD 2:
Tim Parr (guitars)
Rob Stearman (drums)
Craig Bark (keyboards)
Tim Lyons (bass)
Joe 'Joe Who' Halajan (horns)
Bill Johnston (cello - #4, 5, 7)
Jack Chandler (saxes - #5, 6)
Tracklist
CD 1:
01:Imam Bialdi (6:24)
02:R. V. (7:04)
03:Regiments (14:59)
04:Letters (3:53)
05:Blueing (7:10)
06:White Organ Meats (7:03)
07:Grandma Coming Down The Hall With A Hatchet (5:32)
08:Bagon (16:52)
CD 2 (live):
01:Annex (5:56)
02:Bagon/Wandering Aimlessly (14:48)
03:Blirt (4:05)
04:Blueing (12:01)
05:Letters (19:12)
06:Parade (5:23)
07:Regiments [Parts 1, 2 and 3] (11:32)
08:Corn Fed (5:37)
09:Sound Check Bonus (0:43)
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