Im Rahmen seiner 2000er 'Ecstasy'-Welttournee absolvierte Rockpoet Lou Reed mit Begleitcombo im Juli des gleichen Jahres auch einen Auftritt beim hochdotierten Jazzfestival in Montreux.
Die berüchtigten Jazz-Events am Genfersee waren besonders in den Siebzigern der Dreh-
und Angelpunkt für die internationale Szene, die sich auf dem europäischen Kontinent
präsentieren bzw. etablieren wollte.
Mit der Liveveröffentlichung "Rock'n Roll Animal" begründete der ehemalige
Velvet Unterground-Leader vor gut 30 Jahren seinen Ruf als begnadeter,
schonungsloser Rock'n Roller und Singer/Songwriter.
Seitdem hat jener so manches Konzert auf Ton und-Bildkonserven dokumentiert und war
diesbezüglich immer für eine Überraschung gut .
Ein in schwarzes Leder gekleideter Reed, wie gewohnt drahtig, quasi als Sinnbild für den Antiperfektionisten, zelebriert bei dieser mitgefilmten Performance eine unausgegorene Bühnenpräsenz und manövriert sein hervorragendes Begleitensemble durch seine lange musikalische Odyssee von Schmerz und Lust.
Auf das Wesentliche reduziert, direkt und unsortiert klingt der von Röhren-Amps gesteuerte
Gitarren-Sound, der sich per se letztendlich strukturell im Rhythm&Blues ergießt.
Den Grundtenor bilden meistens drei Akkorde auf des Meisters Fender, die mal sehr
zart und zerbrechlich ("Rock Minuet"), mitunter aber dann wieder als schmerzende Feedback-
durchtränkte Soli durchbrennen, bis dato nur verziert durch sehr schöne Licks vom zweiten
Saitenmann Mike Rathke. Der Multiinstrumentalist und Reeds langjähriger Wegbegleiter Fernando Saunders und Schlagzeuger Tony Smith fügen sich mit Präsenz und kultivierten Spiel nahtlos ins Ensemble ein, bei dem sich vom Teamgeist beflügelt, keiner unangemessen in den Vordergrund zu drängen wagt.
Lou Reed, der als einstiger Paranoiker und lyrischer Zyniker die jugendkulturelle Aufbruchsenergie der späten 60er mit Andy Warhols-Sturzgeburt Velvet Underground in brachialen Gitarrenorgien kanalisierte, scheint mittlerweile etwas in die Jahre gekommen zu sein. Heute sind viele dieser Ideale minimiert oder gar verschwunden. Er setzt deshalb aber unverdrossen mit viel Lärm und Energie auf die Kraft des Rock'n Roll, als eine intime Kunstform bzw. verbale Munition für seine urbane Poesie.
Die Songs sprechen vom täglichen Zivilisationswahnsinn in den Isolationshochburgen
("Dirty Blvd") bzw. deren absurden gesellschaftlichen Ausgeburten, wie sexuelle Abseitigkeiten und sonstige Obsessionen.
"Kunst muss pur daher kommen, damit sie die Realität möglichst ungeschminkt darstellt".(Reed)
Dieses Zitat wird auf der DVD "Live At Montreux 2000" musikalisch und auch visuell
tatsächlich verinnerlicht. Bei dem 123 Minuten währenden Konzert schöpften die
Protagonisten vollmundig aus dem Fundus doppeldeutig verfasster, sadomasochistisch
durchtriebener Rocklyrik des mittlerweile 62 Jährigen.
Er haderte damals mit seinen Klassikern und spielte mit wenigen Ausnahmen, fast nur neue Songs.
Das musikalische Skelett bildete die damals aktuelle Studioproduktion "Ecstasy" (2000) das
gleichzeitig auch als Motto für diese Tournee herhielt. Gleich derer acht Tracks werden mit einer ihresgleichen suchenden Sensibilität und Unverschämtheit vorgetragen, das man zeitweise den vertonten Dämon des Grosstadtdschungels zu verspüren vermag.
Hier verdichtet sich livehaftig und authentisch eine gewaltige musikalische Materie an
qualitativ hochwertigen kreativen Output. Der maulfaule Performer Reed schmachtet in Nihilismus, der sich mit seinem Habitus nicht gerade in hyperaktiven Bühnengebaren
ertüchtigt. Ein begnadeter Sänger ist er bekannterweise nicht gerade, seine Versuche den
richtigen Ton zu treffen, ist immer ein wenig Glücksache, aber eigentlich sorgsam inszenierter gepflegter Dilettantismus. Seine fragilen, überzogenen Intonierungen erzeugen
präzise die Authentizität, für die eben selbiger geliebt wird. Solche ungehobelten Gitarrenorgien mit einer dermaßen meisterlichen Gelassenheit hat man selten so enerviert
vorgetragen bekommen, wie bei diesem 'Montreux'-Auftritt und dessen filmtechnischer
Umsetzung. Musikalisch gerät dieses beeindruckende cineastische Dokument, vor allem wegen der zähen detailverliebten instrumentalen Rezitative zu einem sinnlich niveauvollen
emotionalem Erlebnis ohne jegliche lakonische Gefühlsdusselei.
Eigentlich muss man als Betrachter das Konzert als Gesamtkunstwerk konsumieren, um die wirkliche Seelentiefe und Lebendigkeit erfassen zu können, kann aber auch aus dem Kontext
gerissene Momente als Höhepunkte betrachten.
Beim semiakustisch intonierten "Ecstasy" entreißen die Musiker ihren Instrumenten, allen voran Meister Saunders am E-Kontrabass (Upright Bass) eine sinistere Schönheit und brillieren, wie auch beim folkig minimalistischen "Turning Time Around" mit einen exzellent tighten Zusammenspiel, dass sich in der Schlusssequenz einer arrangierten Kakophonie hingibt.
Die Schnelligkeits-Manie wurde hier sowieso abgelegt, und man lässt sich hier nur noch an
wenigen Stellen auf ausufernde egozentrische Jamduelle ("Riptide", "Tatters") ein, die aber längst nicht mehr so exzessiv wie in den 70ern ausfallen.
Mit der bezaubernden epischen Ballade "Rock Minuet" lebt der Rockpoet rezitativisch eine Viertelstunde seine verstörte Gedankenwelt aus und fasst es musikalisch wie mit Samtpfötchen an, um sich scheinbar Reserven zu erhalten. Der in völliger Hingabe meisterlich gestrichene E-Kontrabass vom ehemaligen Jan Hammer-, Jeff Beck-, Marianne Faithful -Mitstreiter Launders durchströmt uns mit einer porentief unter die Haut gehenden Resonanz. Akkorde türmen sich auf, die wie Felsen unverrückbar in der Brandung stehen, um zugleich wieder blütenzarte perlende Instrumentalfiguren erklingen zu lassen.
Das anfangs schwerfällige monotone"Tatters" entfaltet seine wahre Aura erst durch die
zeitliche Ausdehnung (14:47) und dem Gänsehaut versprühenden Gitarren-Duett zwischen dem Meister Himself und Mike Rathke. Im Grossen und Ganzen kosten die Protagonisten eine vollkommen geschlossen wirkende, von größten dissonanten 'Wohlklang'
gekennzeichnete Interpretation der Kompositionen aus.
Nebenbei gibt der gut aufgelegte Klangkörper auch eine kleine Essenz des spartanischen Rock'n Roll-Dialektik Meisterwerkes "New York"(89) zum Besten.
Ansonsten versuchen die Hauptdarsteller beim überwiegenden Teil der Performance die Untiefen der minimalistischen Rockmusik darzustellen und technisch auszuloten.
Der Ton ist exzellent abgemischt und kann mit seinem transparenten 5.1. dts - Surroundsound vollkommen überzeugen. Die Kameraregie beschränkt sich auf das Wesentliche, ist aber immer nah am Geschehen dran, und das ohne jeglichem computeranimierten Firlefanz.
Diese DVD ist für jeden Lou Reed Anhänger und Liebhaber ehrlicher Rockmusik eine
Offenbarung! Rock'n Roll Will Never Die!
Technik:
Bildformat 4:3, PAL English, DTS, Dolby Surround 5.1., PCM, Stereo
Spielzeit: 123 Min, Medium: DVD, Eagle Vision, 2005
1:Paranoia Key Of E 2:Turn To Me 3:Modern Dance 4:Ecstasy 5:Small Town 6:Future Farmers Of America 7:Turning Time Around 8:Romeo Had Juliette 9:Riptide 10:Rock Minuet 11:Mystic Child 12:Tatters 13:Twilight 14:Dirty Blvd 15:Dime Store Mystery 16. Perfect Day
Ingolf Schmock, 01.12.2005
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