Railroad Earth / Elko
Railroad Earth
Es gibt CDs, die ich zum ersten Mal in den Player lege und bei denen ich nach den ersten Takten zu grinsen anfange. Weil da schon erkennbar wird, was die Scheibe hergibt und mir das gleich zusagt.
So jüngst wieder passiert, als ich Disc 1 des Live-Doppel-Albums "Elko" von Railroad Earth einschmiss. Eine Akustikgitarre eröffnet, Banjo schrammelt, Mandoline zirbt, Fiedel jauchzt, darüber erhebt sich eine helle, klare Stimme und singt, chorunterstützt, mit leicht melancholischem Unterton von einem "Long Way To Go". Dazu gibt´s ordentlichen Drive von Kontrabass und Schlagzeug. Bluegrass vom Feinsten!
Die Band spielt ohne elektrische Instrumente (lt. PR-Text, wobei allerdings zumindest eine Leadgitarre öfters sehr 'elektrisch' klingt) und bewegt sich in den weiteren gut zwei Stunden in bester nordamerikanischer Folk-Tradition. Sprich, das sind die unterschiedlichen, vorwiegend europäischen Musikwurzeln, aus denen ein starker Baum erwachsen ist und der die verschiedensten Früchte trägt. Eine schöne, belebende und erfrischende Frucht ist die Musik von Railroad Earth, die ich erstmals kosten konnte. Im Verlauf der beiden Scheiben, die von der 2005er-Frühjahrstour des Sextetts stammen, begegnen mir die verschiedensten Einflüsse, die wir aus der Volksmusik beiderseits des großen Teichs kennen. Gekonnt verschmolzen zu einer facettenreichen Melange und eingefangen in oft recht eingängigen Songs. Altbekannte Klischees neben neuen Themen, musikalisch wie textlich.
Die jugendliche, politisch eher links orientierte Folk-Bewegung der 60er-Jahre und die traditionelle, konservative 'westliche' Folkore mit ihren Stilen Country&Western, Bluegrass oder Cajun waren zwei Lager, die sich lange völlig feindlich gegenüber standen. Es gab nur wenige Berührungspunkte, wie etwa das Byrds-Album "Sweetheart Of The Rodeo" (1968). Die Kluft überbrückte 1971 die Nitty Gritty Dirt Band mit ihrem legendären 3er-Album "Will The Circle Be Unbroken", eingespielt rein akustisch in Nashville mit den Größen der dortigen Szene. 33 größtenteils bekannte Genresongs wurden aufgenommen, wobei es der Überlieferung nach erstmals zu einem echten gemeinsamen Musizieren zwischen den 'Alten' und den 'Jungen', den 'Kurzgeschorenen' und den 'Langhaarigen', gekommen sein soll.
Wer meint, 'Americana', 'Roots-'‚ oder 'Red Dirt Music' seien Erfindungen der letzten Jahre, der soll sich diesen Meilenstein der neueren amerikanischen Musik anhören - da werden die LEDs schlagartig zu blinken anfangen! Heute gibt es die beiden Lager so längst nicht mehr und eine neue Generation spielt diese Musik mit einer solchen Selbstverständlichkeit und ausufernden Leidenschaft, dass wohl niemand auf die Idee käme, das 'konservativ' zu nennen.
Railroad Earth, gegründet 2001, ist in den U.S.A. dem Vernehmen nach längst eine angesagte Band, die die Massen anzieht und Begeisterungsstürme bei ihren Auftritten auslöst. Das kann ich gut nachvollziehen, wenn ich mir die Aufnahmen, die im Übrigen wie aus einem Guss wirken, anhöre. Spielfreude pur und die Reaktionen des Publikums sind entsprechend lautstark. Was die Band von ihren traditionellen Vorgängern unterscheidet, ist zum einen die Länge der Songs. Der kürzeste ist 6:01, der Längste 16:01. In jedem ist reichlich Platz für diverse Soli, es wird auch reichlich improvisiert, so meine Einschätzung. Deshalb wird Railroad Earth auch als 'akustische Jam-Band' zitiert.
Nun, auch das ist keineswegs eine Erfindung der Rockmusik. Der Begriff stammt aus dem Jazz, aber gerade in der Volksmusik, wenn die Könner zusammentrafen, wurde doch schon immer im wahrsten Sinn improvisiert, instrumental und oft auch vokal. Das andere Kriterium, das Railroad Earth abhebt, ist die Vermischung der traditionellen Einflüsse und die Umsetzung in aktuelle Stile. Da taucht schon mal ein dezenter, munterer Reggae auf ("Old Man And The Land") oder auch eindeutige Rockrhythmen ("The Hunting Song") bilden das Song-Gerüst. Im neueren 'Jam'-Verständnis kommt "Mighty River" daher, das von seiner Struktur durchaus 'deadlike' ist. "Like A Buddha" klingt nach Calypso und ist mit einer leicht angejazzten Querflöte richtig poppig aufgemacht. Im "Warhead Boogie" ist genau das drin, was draufsteht. Der, in seinem Zynismus Herrn Dylan durchaus angemessene Text, nennt keine Namen. Aber ich wette, die Band würde nicht bei 'Dabbeljuh' und seiner schwarzen Daisy Duck zur Seltersparty aufspielen. Und es groovt gewaltig mit einer irren Fiedel auf Psychotrip (auch nicht elektrisch???), die Post geht ab! Ganz countrymäßig dann das mehrstimmige, an CSN&Y erinnernde "Railroad Earth", eine schöne Hymne an das ungebundene Leben, bei der sich im Mittelteil die Instrumente gefühlvoll abwechseln.
Warum das allerdings nicht der Abgesang ist, weiß wohl allein der Produzent. So gibt´s dann noch einmal 14 lange Minuten Jamiges, das songtechnisch und elektrifiziert durchaus den Allman Bros. Ehre machen würde. Allerdings kommt der Gesang recht müd daher, the work is done, well.
Und damit sind wir beim einen Knackpunkt. Die Leadvocals von Todd Sheaffer wirken über die gesamte Dauer doch etwas bieder und wenig abwechslungsreich. Der andere sind die Länge der Songs oder anders ausgedrückt, das, was da hineingepackt wurde. Es schrammelt, zirbt und jauchzt halt ein wenig viel, mir auf Dauer sogar eindeutig zu viel und zu beliebig. Weniger wäre mehr gewesen, einmal mehr. Zumindest wenn ich richtig zuhöre, so nebenher geht's eigentlich.
Ich schätze, bei den Livekonzerten ist's auch eher entspannt. Die Leute werden im Gras liegen, die Sonne genießen, ein paar Schwaden vom Nachbarn mit inhalieren, ab und zu ein Bier holen, die Männer den Frauen in den hoffentlich lohnenden Ausschnitt linsen und die denselben auf den ebenso hoffentlich knackigen Hintern. Nein Railroad Earth ist nix für die moralinsauren Musikanalytiker aus dem Intellektuellenlager, sondern für Musikgenießer, denen das Feeling wichtiger ist.
Die Live-Aufnahmen sind bestens eingefangen (samt Auditorium), soundtechnisch absolut gelungen, allerdings dominieren die 'spitzen' Instrumente den Rest.
Es gibt CDs, da muss ich auch zum Schluss grinsen. Wenn ich dann den PR-Text des Vertriebs lese und da steht - Sparte: Rock …
Todd Sheaffer, lead vocals, acoustic guitars
Tim Carbone, violin, vocals
John Skehan, mandolin, vocals
Andy Goessling, acoustic guitars, banjo, dobro, mandolin, flute, pennywhistle, saxophones and vocals
Carey Harmon, drums, hand percussion, vocals
Johnny Grubb, upright bass


Spielzeit Disc 1: 57:46, Disc 2: 68:14, Medium: CD, SCI Fidelity Records, 2006
Disc 1: 1:Long Way To Go 2:Colorado 3:Bird In A House 4:The Hunting Song 5:Old Man And The Land 6:Head
Disc 2: 1: Elko 2:Mighty River 3:Like A Buddha 4:Warhead Boogie 5:Railraod Earth 6:Seven Story Mountain
Norbert Neugebauer, 04.04.2006