Alle guten Bandnamen sind schon vergeben? Denkste!
Von jenseits der Oder-Neiße Linie schickt sich das Quartett Riverside an, die Herzen der Musikfans im Sturm zu erobern. Riverside! Wirklich ein gelungener Name. Er klingt weich und sanft und weckt Assoziationen verschiedenster Ausprägung. Winterlandschaften am Fluss! Partikuliere auf den Binnengewässern! Die müde Skyline einer Möchtegernmetropole betrachtet vom Deutzer Rheinufer!
Alle seltsamen Albumtitel gibt es schon? Denkste!
Die zweite CD der polnischen Progressive/Artrockband trägt die Bezeichnung "Second Life Syndrom". Wer denkt da nicht sofort an eine mittelschwere Krise direkt nach der Wiedergeburt? Sei sie nun real, simuliert oder eingebildet.
Alle obskuren Songtitel sind schon erfunden? Denkste!
In den Masuren werden Songs geschrieben, die "Dance With The Shadow" heißen, oder "Volte-Face", sowie "Reality Dream III". Das verspricht eine ganze Menge und lässt Musik erwarten, fernab dem sonstigen Gewimmer über Liebe, Eifersucht, Verlangen und Drogen.
Thematisch stellt "Second Life Syndrom" den zweiten Teil einer Trilogie dar, in der sich ein einsamer Mensch auf der Suche nach seinem wahren Ich befindet. Wie spannend!
Im ersten Teil, verkörpert durch das Debütalbum "Out Of Myself", versuchte er ein gewöhnliches, schätzen wir mal 'Spießerleben', zu führen, was natürlich misslang. Wie überraschend!
Nun will er sein Leben ändern und kämpft mit seinen Erinnerungen um Selbstsicherheit. Dazu einen Soundtrack zu schreiben, ist gewiss nicht einfach. Aber Mariusz Duda hat die Herausforderung gemeistert.
Mariusz bedient sich verschiedener Stilmittel. Mal klingen seine Songs eher sphärisch angehaucht. Dann packt er unvermittelter Dinge härtere Geschütze aus, wie Doublebassbegleitungen oder rockiges Riffing. Seine meistens vorsichtig klingende Sangesdarbietung passt genau in die molltonigen, schwermütigen Arrangements. Ab und zu traut er sich sogar mal und setzt alles an Volumen ein, was er so zu bieten hat. Und selbst das kann sich hören lassen.
Riverside leben von dem vielseitigen Keyboardspiel Michal Tapajs. Er sorgt gekonnt für die beklemmende Atmosphäre. Das von ihm produzierte Hintergrundrauschen ist die Trägerwelle für die Dramaturgie des Albums. Auch Hammond-Sounds sind zu hören. Sie sorgen wie die Pianomelodien für die Abrundung der Kompositionen und stiften dabei eine gehörige Portion Unruhe. Den letzten Pfiff bekommen die Songs aber erst durch Piotr Grudzinkis Axtarbeit. Seine Soli und Fill-Ins strotzen vor Einfallsreichtum. Der heulende, anklagende Sound seiner Leadguitar durchdringt öligsten Rauch und hartnäckigsten Nebel. Es macht Spaß diesem Mann bei der Arbeit zuzuhören.
Ein wirklich betörendes Stück Riverside ist mit "Conceiving You" digitalisiert worden. Die traurige Strophe erfasst das Schwermutzentrum des Hörers. Wenn er denkt, die Tränen stehen Oberkante Unterlid, setzt Piotr Grudzinski mit seinem gefühlvollen, bewegenden Gitarrenspiel ein. Es begleitet Mariusz durch den harmonischen Refrain und klingt in einem Feedback aus.
An Pink Floyd erinnert der Anfang vom Titeltrack. Der Keyboardteppich bietet der Gitarre ein warmes Lager. Die Snare haucht dem Arrangement in homöopathischen Dosen Dynamik ein. Eine nicht erwartete Gesangslinie führt den Song in einen soliden Prog-Rock Riff. Ähnlich abwechselungsreich geht es 11 Minuten weiter. Noch Fragen? Ach Ja, die Gesamtspielzeit des Songs beträgt 15:40 Minuten.
"Second Life Syndrom" ist ein Album für Genießer geworden. Man muss sich dafür Zeit nehmen. Die Produktion drängt sich nicht auf, sondern ist dem Anliegen Riversides angemessen. Explosionen darf man nicht erwarten. Der Sound erschließt vor allem die Breite, weniger die Höhe des klanglichen Multiuniversums.
Sieben RockTimes-Uhren gehen an die Bernsteinküste. Es sind nicht mehr geworden, weil "Second Life Syndrom" insgesamt doch irgendwie zu kräftezehrend ist. Denn letztendlich wird nicht nur Endorphin ausgeschüttet, sondern auch die Melantoninproduktion angeregt. Das mag sich jetzt wie ein Widerspruch anhören, aber ich bin bei der Scheibe glücklich eingeschlafen. Will sagen, sie ist bei aller Vielfalt schon ein bisschen monoton ausgefallen. Vielleicht ist das der exzessiven Verwendung der Molltonart geschuldet.
Spielzeit: 63:39, Medium: CD, InsideOut Music / SPV, 2005
1:After 2:Volte-Face 3:Conceiving You 4:Second Life Syndrome 5:Artificial Smile 6:I Turned You Down 7:Reality Dream III 8:Dance With The Shadow 9:Before
Olli "Wahn" Wirtz, 27.10.2005
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