Soll ich, oder soll ich nicht? Das werden sich außer mir noch sehr viele Stones-Anhänger zu dem Zeitpunkt gefragt haben, als angekündigt wurde, dass die Band in Deutschland spielen wird. Als dann die Preise bekanntgegeben wurden, war wohl doch für die Meisten klar, dass sie lieber nicht sollen. Für manche geht da schon mal ein Viertel eines Monatsgehalts drauf, geschweige denn, wenn die ganze Familie dem Spektakel beiwohnen möchte. Der Urlaub ist somit gestrichen. Aber ein Besuch der herrlichen Waldbühne in Berlin, wenn man zudem noch in der Abenddämmerung bei Temperaturen jenseits der Schallgrenze von dreißig Grad auf die selbst ernannte, größte Rockband aller Zeiten warten darf, gleicht den Verzicht auf einen Urlaub locker wieder aus.
Auch ich war anfangs einer dieser Zögerer, aber nach vielem Abwägen und der Erkenntnis, sie 1982 das erste Mal und nun, 2014, wohl vermutlich zum letzten Mal zu erleben, hat mich um tausend Ecken dazu bewogen, mir ein Ticket der mittleren Kategorie für 196 Euro zu gönnen. Nein, ich verzichte nicht auf meinen Urlaub, sondern ich belohne mich selbst damit für meine fleißige Arbeit und mache mich rechtzeitig auf den Weg, um einen guten Platz im Sitzblock H zu ergattern. Sicher würden sie, wie bei ihren letzten Gastspielen in Berlin, das Olympiastadion füllen, aber es hat ja einen tieferen Sinn, wenn Mick Jagger und Co. ausgerechnet in der Waldbühne auflaufen. Wollen wir mal hoffen, dass es nicht das gleiche Debakel wie 1965 gibt.
Die Ränge füllen sich stetig und die Ordner haben alle Mühe, die Fans in die Sitzreihen zu quetschen. Ich kann mich nicht erinnern, die Waldbühne jemals so voll gesehen zu haben. Neben der gängigen Politprominenz tummeln sich auch viele Persönlichkeiten aus der Musikbranche sowie Funk und Fernsehen im VIP-Block schräg unter mir. Aerosmith, die tags zuvor die O 2 World gerockt hatten, schlagen vollständig auf, ebenso wie Rammstein, die Puhdys, City und viele mehr. Mittendrin Thomas Gottschalk, der sich ja oft auf solchen Events sehen lässt, da er bekennender Musikfan ist. Ich sitze sehr gut, habe einen perfekten Blick auf die Bühne und dem Drumherum und bin zum Glück im Schatten. Anders Tausende in den gegenüberliegenden Blöcken. Sie müssen noch mehrere Stunden die gleißende Sonne ertragen, die ihnen direkt ins Gesicht scheint. Getränke sind das Maß aller Dinge und werden reichlich konsumiert. Bierträger können gar nicht so viel schleppen, wie sie verkaufen könnten. Nur ist leider Bier das Einzige, das mobil verkauft wird. Ich hätte gerne etwas anderes, müsste dafür aber meinen Sitzplatz verlassen, der dann sofort von den Ordnern mit einer anderen Person besetzt würde - deshalb heißt es für mich, einfach durchhalten. Ich bin ja bereits durch die letzten Tage auf Abstinenz getrimmt.
Neunzehn Uhr, es kann losgehen. Aber zu früh gefreut. Die angekündigte Vorband The Temperance Movement lässt sich Zeit. Dreißig Minuten Verspätung, aber es scheint niemanden zu stören. Natürlich ist die Band stolz, hier spielen zu dürfen. Wer wäre das nicht, aber ich sage es mal so, wie es mit Sicherheit viele andere ebenfalls sehen: Auf diese Darbietung hätte man auch locker verzichten können. Nichtssagende Musik, ein Sänger, der wild gestikulierend über die Bühne hechtet, ein Trommler, der nicht zu hören ist und ein mehr als schwaches Gesamtbild der Band. Einziges angenehmes, ja schon fast außerordentlich schönes Stück, ist die Ballade "Pride" im Folk Rock-Gewand. Warum nicht alles so, meine Herren, dann wäre es echt der Bringer. So kann ich nur sagen, dass dort eine Band gespielt hat, mehr leider nicht.
Die Uhr tickt unermüdlich weiter. Es ist bereits kurz vor halb neun. Jeder, der die Gesetze in Berlin kennt, weiß, dass um zweiundzwanzig Uhr Feierabend ist. Heute scheint es wohl eine Ausnahme zu geben und endlich sind sie da. »Ladies and Gentleman, would you please welcome - The Rolling Stones«, tönt es aus den Speakern und im Schein der Flammenwerfer erobern sie die Bühne, auf der es 1965 nach einer halben Stunde Spielzeit zur Katastrophe kam. Die Geschichte kennt mittlerweile jeder und tags zuvor wurde sie in den Medien noch einmal ausführlich beleuchtet. Interessant vielleicht zu erfahren, dass die Tickets damals 6,00 DM im Vorverkauf und 8,00 DM an der Abendkasse gekostet haben. Das bedarf keines weiteren Kommentars.
"Start Me Up" - Mick Jagger im blauen Glitzer-Jackett, agil wie eh und je, gut bei Stimme und mit einem hervorragenden Deutsch ausgestattet. Tosender Applaus, alles springt auf und bleibt bis zum Schluss stehen. Keith Richards locker und entspannt wie immer, Ron Wood angestrengt und konzentriert bei der Arbeit und der gute alte Charlie Watts - zusammengekniffene Lippen, stoischer Blick, immer zurückhaltend. Ja, sie sind und bleiben die Alten, zur Freude tausender Fans, die sich vor Jubel kaum noch einkriegen.
Ein paar wenige optische Effekte sorgen für Untermalung, sonst bleibt es heute ausschließlich bei guter Musik. Die Stones haben eine gesunde Mischung aus ihrem schier unerschöpflichen Repertoire zusammengestellt, darunter natürlich viele beliebte Klassiker, die letzte Single "Doom And Gloom", der Titel "Get Off Of My Cloud", der beim Internet-Voting für Berlin aus sechs Vorschlägen gewonnen hat und einer kleinen Überraschung, zu der ich noch kommen werde.
Jagger gibt sich heute enorm wortgewandt und versucht, so viel wie möglich in deutscher Sprache zu erklären. Ich bin erstaunt, wie gut er spricht. Selbst im Geschehen der Stadt kennt er sich aus, was wohl mittlerweile niemand weltweit mehr wundert und so haut er im trockenen englischen Humor einen guten Witz über die 'Never Ending Story' Flughafen Schönefeld heraus. Im Ansatz zu "Waiting On A Friend" ist er der Meinung, dass wir wohl länger auf den Flughafen warten werden, wie er jemals auf seinen Freund. Das ist ein Schlag ins Gesicht der Politiker-Riege, die sich bei Schampus in der Sonne räkelt. Der Mann hat meine volle Sympathie. Manchmal wird seine Redeflut allerdings spontan unterbrochen. Mitten in der Ansage zu "It's Only Rock'n'Roll" fährt ihm Richards mit seinem Eröffnungs-Riff in die Parade, erntet einen bösen Blick, lässt sich aber nicht aus der Ruhe bringen, um den Song weiterzuspielen.
Richards zeigt bei seinen beiden Solo-Nummern, dass er etwas neben sich steht. Mehr lallend als redend macht er seine Ansagen und weiß zum Teil nicht, was er überhaupt von sich geben soll. Dennoch, sobald die Musik erklingt und er seine Gitarre bedient, ist er auf den Punkt da und benötigt nicht einmal seine beiden Monitore, die ihm den Text vorgeben. Seine Gesangsstimme hat sich deutlich verbessert. Ich erinnere mich noch an vorangegangene Konzerte in Berlin, bei denen ich seinen Solo-Part für völlig überflüssig gehalten habe. Nun bin ich, aufgrund seiner Leistungssteigerung der Meinung, dass beide Songs, "You Got The Silver" und "Can't Be Seen", recht ordentlich rüber gekommen sind.
Highlight und Überraschung des Abends ist das Kurzgastspiel des alten Weggefährten und Ron Wood-Vorgängers Mick Taylor. "Midnight Rambler", 'sein' Song, wird mit ihm fast fünfzehn Minuten zelebriert. Das sind die Stones, wie die Welt sie liebt: rotzig, frech und provokant, eben wie in den 'guten alten Zeiten', als Musik noch Revolution war. Taylor genießt den Auftritt und das Miteinander unter seinen alten Freunden. Ronnie hält sich auch zurück und gönnt seinem Vorgänger die Ehre. Er ist heute Abend derjenige, der sich am häufigsten umzieht. Man könnte das schon fast divenhaft bezeichnen. Fast zu jedem Song erscheint er im neuen Outfit, mal grellbunt, mal bedeckt dezent. Er verkörpert das, was man für gewöhnlich von Mick Jagger erwartet. Der dominiert heute ausschließlich in Schwarz, abgesehen von der glitzernden Jacke, die er nur kurz trägt. Einzige Ausnahme ist ein schwarzroter Umhang, den er bei "Sympathy For The Devil" über die Schultern wirft und der ihn im gleißenden roten Licht sehr mystisch erscheinen lässt. Dieser Song sorgt dafür, dass die Band minutenlang in dichten Rauchschwaden verschwindet. Jagger ist gewollt nur schemenhaft erkennbar und singt wie der Teufel höchstpersönlich.
"Brown Sugar" wird nachgelegt und beendet nach neunzig Minuten die Show. Im Dunkeln schiebt sich ein Mädchenchor auf die Bühne - glockenklarer Klang der reinen Stimmen. "You Can't Always Get What You Want" - die Stones in Begleitung der Faboulos Friday. Ein grandioses monumentales Finale, dem nur noch die Krone "Satisfaction" mit einem Feuerwerk aufgesetzt wird. Alle Beteiligten auf die Bühne, große Verabschiedung und ein Bye Bye für immer, obwohl Jagger und Co. so fit sind, dass sie locker noch weitere zehn Jahre spielen könnten.
Zu guter Letzt noch eine nüchterne Anmerkung. Ob die Show die hohen Eintrittspreise rechtfertigt, wage ich sehr zu bezweifeln. Man sollte nicht vergessen, dass dort vorne auf der Bühne auch nur Menschen stehen. Sie haben einfach nur Glück im Leben gehabt, dazu das Talent, andere Menschen durch ihre Musik zu verzaubern. Aber ist es das wirklich Wert, so viel Geld dafür auf den Tisch zu blättern. Andere Bands ähnlichen Kalibers bieten mindestens ebenso viel. Wenn das Beispiel die Runde macht, dann Gnade den Fans Gott, wohin der Weg bei den Preisen führen wird. Beide Merchandise-Stände waren übrigens bereits vor Showbeginn fast vollständig ausverkauft, bei Preisen von fünfunddreißig Euro für ein Shirt. Ich habe die Rolling Stones nun viermal in meinem Leben gesehen. Ich denke, es ist für mich genug.
Line-up:
Mick Jagger (vocals)
Keith Richards (guitar)
Ron Wood (guitar)
Mick Taylor (guitar)
Darryl Jones (bass)
Charlie Watts (drums)
Setlist Rolling Stones:
01:Start Me Up
02:You Got Me Rocking
03:It's Only Rock'n'Roll (But I Like It)
04:Tumbling Dice
05:Waiting On A Friend
06:Doom And Gloom
07:Get Off Of My Cloud (Internet-Voting)
08:Out Of Control
09:Honky Tonk Women
10:You Got The Silver
11:Can't Be Seen
12:Midnight Rambler
13:Miss You
14:Gimme Shelter
15:Jumpin' Jack Flash
16:Sympathy For The Devil
17:Brown Sugar
Encore:
18:You Can't Always Get What You Want
19:(I Can't Get No) Satisfaction
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