Stellt euch vor, das Konzert ist zu Ende, aber niemand geht nach Hause...
So hat sich das Publikum in Berlin verhalten, nachdem eine der größten Progressiv Rockbands ever eines ihrer zwei Gastspiele in Deutschland gegeben hatte. Rush sind endlich wieder hier und seit Monaten freute ich mich auf diesen Abend. Diesen Gedanken hegen aber leider nicht sehr viele Anhänger der Band mit mir und somit ist die O2 World in Berlin nur mäßig gefüllt. Ich habe deutlich mehr Interesse erwartet und wenn nicht ein paar tausend Besucher aus dem Nachbarland Polen in der Halle wären, na dann gute Nacht, Freunde. Zweiter negativer Nebeneffekt ist die Kartenvergabe im Innenraum, denn dort werden die Fans in zwei Kategorien geteilt. Die höhere darf 'front of stage' stehen, die niedere weit hinten in der Halle. Optisch gibt das kein gutes Bild ab und ich frage mich, wer auf solch eine merkwürdige Idee kommt. So dauert es auch bis nach der Pause, bis die Stimmung endlich steigt.
Da ich keine Fotos schießen konnte, bleibt mir nur übrig, den außergewöhnlichen Bühnenaufbau mit Worten zu beschreiben. In Blickrichtung zur Bühne stehen die Synthesizer von Geddy Lee rechts am Rand. Diese sehen aus wie eine Maschine aus einem Time Machine-Film. Hinter ihm steht ein überdimensionaler Popcorn-Verkaufswagen, der unermüdlich weiße Flocken produziert. Daneben ein riesiges Gehirn im Glaszylinder sowie einige merkwürdige Dinge, die aus alten Blechblasinstrumenten gefertigt sind. Das Megateil von Schlagzeug, das komplett im Uhren-Design lackiert ist, steht auf einem Drehpodest und besteht aus insgesamt drei Sets sowie einigen elektronischen Pads. Während der Show bekommt man oft Einblicke von oben in den Aufbau, da mit sehr vielen Kameras jedes Detail auf einer riesigen Leinwand sichtbar gemacht wird. Links daneben stehen drei große Scheinwerfer, wie man sie im Krieg zur Erkennung der Flugzeuge am Himmel benutzt hatte. In deren Lichtkegel werden immer wieder unterschiedliche Motive dargestellt. Vor diesen spielt Alex Lifeson und präsentiert seine Gitarrensammlung. Dazu kommen noch viele weitere kleine oder größere Deko-Elemente, deren Funktion oft an mir vorübergeht, da meine Augen nicht wissen, wo sie zuerst hinsehen sollen.
Die Show beginnt mit einem Film. In einem Labor werden aus verschiedenen Körperteilen und Gegenständen die Musiker zusammengesetzt. Frankenstein lässt grüßen. Fast unbemerkt schleichen sich Rush währenddessen auf die Bühne und beginnen ihre grandiose Show. Geddy Lee, mit weißem Bass um den Hals, bearbeitet die Tastaturen und singt mit seiner markanten Stimme einfach göttlich dazu. Bei den ersten Songs verbringt er die meiste Zeit hinter den Keys und nur gelegentlich tritt er kurz hervor, um zu zeigen, dass er nebenbei noch den Bass zupft. Er hat an diesem Abend mit Abstand die meiste Arbeit, was man nicht vermutet, wenn man Neil Peart hinter seiner Burg sieht. Der Mann ist hingegen die Ruhe in Person. Oft über die große Leinwand dargestellt, sieht man ihn völlig locker die schnellsten fill-in's spielen, während er dabei keine Mine verzieht. Er schaut den ganzen Abend extrem in sich gekehrt aus. Sein Schlagzeug steht auf einem drehbaren Podest und besteht, wie bereits erwähnt, aus mehreren Sets. Je nach Bedarf wird das passende nach vorne gedreht. Leider passiert das stets im Dunkeln und somit geht der besondere Effekt an den Fans vorüber. Für meine Begriffe würde es deutlich besser aussehen, wenn das Teil während des Spielens um ihn gedreht würde, denn selbst das wäre technisch möglich.
Sehr agil und für die Fans ständig präsent ist Gitarrist Alex Lifeson. Er nutzt zwar die Breite der Bühne auch nicht vollständig aus, bewegt sich aber oft von links nach rechts und kommuniziert mit den Fans in den vorderen Reihen.
Die Show ist in zwei Parts aufgeteilt. Der erste Teil läuft achtzig Minuten und endet nach "Far Cry". So richtig wird das Publikum in dieser Zeit nicht munter und es sieht für mich so aus, als ob sich Rush erst einmal warmspielen müssen. Im Hintergrund laufen unzählige Einspielungen verschiedenster Art, die themenbezogen zu den Songs passen. Es ist eine riesige Flut für das Auge und kaum zu verarbeiten. Immer wieder wechseln die Kameras zudem zwischen den Musikern und zeigen deren Soli in voller Größe. Lee und Lifeson lassen sich dabei besonders oft auf die Finger sehen. Jedes Detail wird eingefangen und oft in mehreren Bildern gleichzeitig auf der Leinwand dargestellt. Dazu kommen Trickfilme und eine Filmsequenz, die aus den goldenen Zwanzigern stammen könnte. Ein Mann im feinen Zwirn gibt sich darin als Finanzbeamter auf der Suche nach dem Uhrmacher aus, der in "Clockwork Angels" vorkommt. Dabei trifft er auf drei kleinwüchsige Menschen, die sich selbst als Gnome bezeichnen und den hilflosen Kerl an der Nase herumführen. Diesen Darstellern wird das Publikum im Verlauf des Abends noch öfter begegnen.
Um im ersten Teil der Show für etwas Situationskomik zu sorgen, betritt ein Bühnenarbeiter die Szenerie, um, mit einem Putzlappen bewaffnet, für eine staubfreie Bühnendekoration zu sorgen. Einen sehr schönen Knalleffekt hat das Miniaturfeuerwerk in Verbindung mit den extrem hohen Flammen, die bis zur Hallendecke schießen und für großes Staunen sorgen. Silvester im Juni hat ja auch mal was.
Natürlich läuft während den optischen Leckerbissen auch noch jede Menge Musik. Mit den Ansagen hält sich Geddy Lee zurück, aber die wenigen, die er macht, versucht er weitgehend in deutscher Sprache. Die Songs gehen somit oft ineinander über und werden gegen Ende des ersten Teils, im Stück "Where Is My Thing?" mit einem hervorragenden Drumsolo gekrönt.
Rush schicken die Fans nach dem ersten Block für fünfzehn Minuten in die Pause, in der sich derweil die Musiker des Clockwork String Orchestra auf ihre Plätze begeben. Noch während das Licht im Saal eingeschaltet ist, beginnt völlig unscheinbar das Intro zu "Caravan". Wiederum leitet ein kleiner Film die Show ein, damit das Trio ausreichend Zeit hat, um seine Position einzunehmen. Wie ausgewechselt, so habe ich das Gefühl, legen Rush plötzlich deutlich aggressiver los, unterstützt von den hervorragenden Streichern. "Clockwork Angels" bringt das Publikum zum ersten Mal so richtig zum Jubeln und es hält die wenigsten Besucher noch auf ihren Sitzplätzen in den Rängen. Ein Hammer-Song folgt dem anderen, dazu noch viel mehr Lichteffekte. Von der Decke werden zusätzlich zehn weitere Leinwände abgelassen, die mehrfach ihre Positionen wechseln und auf die alles Mögliche projeziert wird. Die Show wächst über sich hinaus, ich bin völlig gefesselt und kann mich durch die vielen Sinnesreize kaum noch auf die Musik konzentrieren. Erneut wird ein Feuerwerk abgebrannt. Raketen fliegen durch die Halle, meterhohe Flammen schlagen direkt hinter den Streichern gen Hallendecke. Es ist ein Spektakel ohne Gleichen und mittendrin eine Band, die fast völlig unscheinbar Musik spielt, die einfach nur berauschend ist. Ich kann in diesem Moment nur alle bedauern, die das versäumt haben. Mittendrin liefert Neil Peart sein zweites Drumsolo ab. Dieses Mal auf einem elektronischen Set zu "Headlong Flight".
An dieser Stelle muss ich anmerken, da sich bestimmt einige Leser jetzt wundern werden, dass es für die Konzerte mehrere Setlisten gibt. Es sind insgesamt vier unterschiedliche, bei denen einige Songs variieren. In Berlin wurde, die unten angeführte Show 'C' gespielt. Welches Set wo läuft, kann man im Voraus leider nicht erfahren.
Teil zwei des Abends dauert rund zwei Stunden und fordert nicht nur die Musiker auf der Bühne. Kurz vor Ende des Hauptprogrammes kocht der Saal noch einmal über als "The Spirit Of Radio" angestimmt wird. Einer der bekanntesten Songs von Rush und somit auch Nichteingeweihten geläufig. Kurz vorher hat sich das Orchester still und heimlich von der Bühne verabschiedet und das Trio steht wieder voll im Fokus der Fans. Ein großes Finale wird zelebriert, bei dem noch einmal alles an Bühnentechnik mobilisiert wird, was verfügbar ist. Mit einem simplen 'Danke' und kurzem Winken entschwinden die Drei nach hinten, um aber bereits nach wenigen Zugaberufen noch einen drauf zu setzen.
"Tom Sawyer" ist angesagt und nun hilft auch nicht mehr die Absperrung, welche die Stehplätze im Innenraum teilt. Alles drängt nach vorne. In den Rängen wird ebenfalls nur noch gestanden und gejubelt. "Tom Sawyer" ist auch mein Lieblingssong und ich bin glücklich darüber, dass er so ausgiebig zelebriert wird. Nein, nicht künstlich in die Länge gezogen, sondern wirklich als das Highlight des Abends abgefeiert. Gefolgt von diesem Ereignis gibt die Band noch Auszüge aus der CD "2112" zum Besten, bevor sie im Dunkeln entschwinden. Allerdings, niemand verlässt den Saal, denn es läuft der besagte Film mit dem Finanzbeamten weiter. Dass er zum Schluss bei den drei Gnomen nicht zum Ziel kommt, dürfte eindeutig sein.
Rush haben an diesem Abend gezeigt, dass sie auf den Olymp des Progressive Rock gehören. Die Show ist sensationell, die Musik erstklassig und die Musiker in grandioser Form. Selten ist ein Konzert mit über drei Stunden Spielzeit derart kurzweilig gewesen. Der Bühnenaufbau originell, die Effekte spitze, also ein absolutes Top-Event.
Vielen Dank an Janine Lerch von Go-On-Promotion und dem Concertbuero Zahlmann für die Akkreditierung.
Line-up:
Geddy Lee (vocals, bass)
Alex Lifeson (guitar)
Neil Peart (drums)
Clockwork String Orchestra
Setlist:
01:Subdivisions
02:Big Money
03:Force Ten
04:Grand Designs
05:The Body Electric
06:Territories
07:The Analog Kid
08:Bravado
09:Where's My Thing? (Drum Solo 1)
10:Far Cry
11:Caravan
12:Clockwork Angels
13:The Anarchist
14:Carnies
15:The Wreckers
16:Headlong Flight (Drum Solo 2)
17:Halo Effect
18:Seven Cities Of Gold
19:The Garden
20:Manhattan Project
21:Red Sector A
22:YYZ
23:The Spirit Of Radio
Encore:
01:Tom Sawyer
02:2112 Part I (Overture)
03:2112 Part II (The Temples Of Syrinx)
04:2112 Part VII (Grand Finale)
Externe Links:
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