Vernon Reid & Masque / Other True Self
Other True Self
Vernon Reid gehört zweifelsohne zu denjenigen schwarzen Gitarristen, die den Rock 'n' Roll nachhaltig und unwiderruflich vom Mythos loslöste, eine rein weiße Domäne zu sein.
Der Propagandist für den selbsternannten Black Rock verbindet als Komponist, Songwriter, Arrangeur, Produzent und Instrumentalist Elemente aus der gesamten Tradition der Jazzgitarre mit Einflüssen von Jimi Hendrix, Carlos Santana (für den er auch schon komponierte), Hip Hop, Hard Rock, und Noise Musik. Als Kreativschmied und Konzeptionist der mit zwei Grammy Awards ausgezeichneten Gruppe Living Colour (1984-95), stieg er zu einem in der Branche anerkannten Musiktalent bzw. ambitionierten Künstler auf.
Der in London geborene und in Brooklyn aufgewachsene Reid nahm mit zarten Fünfzehn seine erste Gitarre in die Hand, zunächst als Autodidakt später dann als Student am 'Brooklyn Tech' und 'Manhattan Community College' und das ließ ihn über unzählige Band- und Studiomusiker-Stationen bis heute zu einer gefragten Koryphäe heranreifen.
Ich glaube, dass er momentan als Einziger die Gabe besitzt, einen Erneuerer des modernen Jazz wie John W.Coltrane und einen Gitarrenmythos wie Jimi Hendrix in seiner eigener Wahrnehmung musikalisch zu verbinden bzw. auch umzusetzen.
Dabei verwendet er neben diversen E-Gitarren auch vermehrt Synthesizer-Gitarren und allerlei elektronische Effektgeräte.
So hat der rastlose Musiker bei seiner unnachgiebigen Verfolgung des selbst gesteckten Zieles Ebenen erreicht, von denen jede den meisten Anderen als Basis für ihre jeweilige Arbeit genügt hätte.
Seit 1995 hält der skurrile Gitarrenmelodiker nun sein eigenes Bandprojekt Masque am kochen, bei denen er ungehemmt seine Experimentierfreude und Vielseitigkeit ausleben darf.
Für deren zweite Veröffentlichung "Known Unknown" (2004) wurde er bei Steve Vais Plattenlabel 'Favored Nations' unter Vertrag genommen, wo auch sein neuester Output "Other True Self" die Tage erscheinen wird.
Reid brennt darauf wieder ein rein instrumentales Gitarrenfeuerwerk a la couleur ab, zelebriert geradezu effektgeladenen Jazzrock. Seine Chorusse sind hierbei geprägt von einem Spannungsverhältnis aus klarem logischen Aufbau und überraschenden Wendungen, aus wohl balancierten, melodischen Direktbezügen zur Harmonik und gar kühnen Ausflügen in weit entfernte Klangregionen.
Das stützende instrumentale Korsett seiner Band Masque bietet ihm dafür eine starke, zuverlässige Plattform und brennt hörbar für des Meisters Passion.
Da ist der legendäre Leon Gruenbaum, der gar meisterlich sein selbst gebasteltes Tasteninstrumentarium solistisch sowohl auch im Interplay beherrscht, das derselbe nicht mit einer herkömmlichen Klaviatur, sondern mit einer Computer-Schreibtastatur bedient. Daneben stellt sich heraus, dass er auch ein ausgezeichneter Pianist ist und seine tighten Hammondorgel-Intonationen etwas Sprühendes, Elektrisierendes zum gesamten Klangbild beisteuert.
Auch der neue schwarze Schlagzeuger Don McKenzie überzeugt mit seinem latent energetischen Schlag und verkörpert somit den Prototyp des sogenannten 'Powerhouse'- Drummers der sich den Vorwurf kalter, rein technischer Extrovertiertheit gefallen lassen muss.
Tieftöner Hank Schroy versteht es, als Begleiter stets eine eigenständige, einfallsreiche, am Jazz orientierte Melodielinie voller Dynamik und Drive maßzuschneidern. Dominiert wird der Sound natürlich vom dissonanten, aber sehr variablen Gitarrenspiel des Meisters.
Für Vernon ist das neue Album ein weiterer logischer Schritt auf seiner musikalischen Mission und eröffnet wiederum dem Zuhörer eine verschlungene Dimension rasanter Gitarrenläufe und musikalischer Wechselbäder voll übersprudelnder Ideen.
Von Anbeginn fließen in die Kompositionen seine afrikanischen Wurzeln mit ein, was bei "Other True Self" sogar noch um musikalische Leitmotive aus Lateinamerika ("Flatbush And Church Revisited") und dem mittleren Osten ("Mind Of My Mind") erweitert wird.
So wirkt dieses instrumentale Hörwerk wie ein Kaleidoskop aus erstaunlichen musikalischen Visionen und Farben.
Die ganze Bandbreite der Ausdruckskraft dieser Musik zeigt sich auch im stetigen Wechsel von Intensität, so dass diese einander befruchtende Symbiose doch recht gut gelingt. Trotz verkrampfter Fusionswehen, welche die Föten des schwarzen Blues, Reggae oder komplexer Elektro-Drum'n Bass-gesteuerter Themen in sich tragen, kann das musikalische Gros nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier vier versierte Techniker doch recht selbstverliebt zu Werke gehen.
Reid hat neuerdings auch mehr seine avantgardistische Ader entdeckt und liefert mit den Vorgaben von Depeche Mode ("Enjoy The Silence") und Radioheads ("National Anthem"), nicht einfach nur Coverversionen, sondern schier bis zur Unkenntlichkeit umarrangierte Eigeninterpretationen.
Die Rhythmik bzw. deren Intonation unter freier Verwendung der Originalthemen mit einem eigenwilligem Instrumentarium, wie beispielsweise der Hammondorgel, machen diese Tracks zu Perlen mit einer hohen Identität.
Der überwiegende Teil der Kompositionen sind dennoch recht eingängig, entgegen einer gewissen Komplexität und bieten im dargeboten Genre-Wirrwarr einige gute musikalische Erleuchtungen, auch wenn so manches stellenweise nicht recht zusammenpassen mag.
Trotz interessanter Rhythmen und außergewöhnlichen Soundcollagen wirkt der Grossteil des neuen Outputs doch sehr inspirationslos.
Die Soundtüftler und Konsumenten mit einem weiten Musikhorizont werden "Other True Self" auf jeden Fall lieben.
Dem Rest kann ich dieses Werk nur unter Vorbehalt empfehlen. Wert wäre es, zumindest auch von der Scheuklappen behafteten Rock-Fraktion, entdeckt zu werden.
In diesem Sinne, Traut Euch!


Spielzeit: 57:16, Medium: CD, Favored Nations, 2006
1:Game Is Rigged 2:National Anthem 3:Flatbush And Church Revisited 4:Afrerika 5:Enjoy The Silence 6:Whiteface 7:Oxossi 8:G 9:Wildlife 10:Overcoming 11:Kizzy 12:Mind Of My Mind 13:Prof.Bebey
Ingolf Schmock, 29.03.2006