Christian Scott / Christian aTunde Adjuah
Christian aTunde Adjuah Spielzeit: 60:31 (CD 1), 58:44 (CD2)
Medium: Do-CD
Label: Concord Music, 2012
Stil: Jazz, Fusion, Stretch Music


Review vom 28.07.2012


Wolfgang Giese
Bitte aufmerksam lesen und dann ebenso aufmerksam hören, denn dieses ist ein Jazz-Highlight des Jahres! Eine neue Musikrichtung mag zwar nicht geboren worden sein, obwohl Christian Scott seine Musik 'Stretch Music' nennt. Hierzu der Künstler selbst: »Wir versuchen die rhythmischen, melodischen und harmonischen Konventionen des Jazz zu dehnen und nicht sie zu ersetzen, um so viele musikalische Formen/Sprachen/Kulturen wie möglich zu umfassen.«
Sicher, im Laufe der Spielzeit der beiden CDs treffen wir auf viele Einflüsse, nicht nur aus dem Jazz, sodass sicher eine 'Ausdehnung' stattgefunden hat. Genau das ist das Faszinierende: Kaum glaubt man sich innerhalb eines vergangenen Jahrzehnts zu befinden, etwa gleich in den beiden ersten Stücken, wo mir - insbesondere durch den Gitarristen - der Sound des Mahavishnu Orchestras ansatzweise über den Weg läuft, schon fließen im gleichen Titel andere Merkmale von Musik mit ein. Hypnotisch und in Traumwelten wegtragend gestaltet das Schlagzeug ein scheppernd inszeniertes Umfeld und über allem fliegt Scott mit leidenschaftlichen Trompetenklängen, die aus der langen Jazzgeschichte dieses Instruments zu zitieren scheinen.
Schade eigentlich, dass der zweite Song nach etwa fünf Minuten vorbei ist. Genau den hätte ich gut und gern noch im Sinne alter Titel von Miles Davis mindestens für eine weitere halbe Stunde weiterhören können. Doch nahtlos wird die Magie von einer weiteren abgelöst und lässt rasch die Gedanken über das Vorherige verfliegen. Der schräge Pianosound öffnet eine weitere Tür, die jedoch nur kurz geöffnet bleibt, beginnt doch plötzlich "Who They Wish I Was" mit gedämpfter Trompete und federndem Rhythmus zu swingen. So reiht sich eine Stimmung nahtlos an die andere - reichlich Abwechslung sorgt dafür, dass es nicht leicht ist, ständig nebenbei zu konsumieren. Denn die Musik fordert, sie zwingt (mich) förmlich dazu, zu lauschen, was auch 'zwischen den Zeilen' geschieht, denn ständig scheinen die Musiker neu zu gestalten. Immer wieder ist Veränderung zu spüren, so wie im Jazz der letzten siebzig Jahre stetig Neuland betreten und experimentiert wurde. Und dieser Geist schwebt auch hier mit, aber eher als Kombination vieler Einzelheiten denn als Neuschöpfung, aber 'gestretcht' wird hier allemal.
Nun gut, es wird auch schwieriger, noch für einschneidende Veränderungen und Überraschungen im Jazz zu sorgen. Der Jazz ist (leider) oft 'akademischer' geworden und damit viel zu oft steril. Scott hat es spätestens mit dieser Doppel-CD vollbracht, den Jazz wieder auf ein solides Fundament herunterzuholen, 'auf die Straße'. Er scheint einem Ruf der Berufung zu folgen und das zu machen, was ER will - nicht das, was erwartet wird. Genau das macht für mich die Frische dieser Produktion aus: diese Weite, diese verschiedenen Ansätze, die für sich allein nach Entwicklung rufen. Vielleicht schafft er, diese elitär gewordene Musik wieder jungen Menschen zugänglich zu machen - jungen und unverbrauchten Hörern, die diese Botschaft verstehen können und weiter verbreiten.
Sechs Jahre ist es her, dass der 1983 geborene Künstler aus New Orleans sein erstes Album vorlegte. Schon damals fiel er auf und er ging seinen eigenen Weg beharrlich weiter. Das Fundament hat sicher auch sein Onkel, der Jazzsaxofonist Donald Harrison, gelegt, der ihn früh in den Jazz einführte.
Mit dem Titel der Platte weist der Künstler auf seine Vorfahren hin. Die Zusätze 'aTunde' und 'Adjuah' sind die Bezeichnungen zweier Städte in Ghana. Ursprüngliche afrikanische Musik hört man jedoch nicht, eher das, was sich daraus entwickelte. Verwendet werden viele Elemente aus Rock, Funk, Hip Hop, der mannigfaltigen Jazztradition und dies wird innerhalb der einzelnen Stücke unterschiedlich miteinander verwebt. Wesentlichen Anteil an den Rockelementen hat der Gitarrist, der oft mit verzerrter Gitarre fast schon unbequem anmutende Sounds einquirlt.
Scott selbst wechselt zwischen schnellen, hohen Tönen zu gedämpfter, fast flüsternder Atmosphäre. Der Schlagzeuger zeigt hohe Flexibilität zwischen allen Stühlen, fordert aber stets durch sein innovatives und vordergründiges Spiel heraus.
Falls sich jemand fragen sollte, welche Kleidung der Musiker auf dem Cover zur Schau stellt: Das sind zeremonielle Insignien der afroamerikanischen Kultur aus New Orleans - der Black Indians oder auch Mardi Gras Indians.
Ich möchte das Schlusswort dem Musiker überlassen, der damit für mich die Musik auf den Punkt bringt: »Als Künstler versuche ich immer Dinge zu tun, die noch keiner zuvor getan hat. Das geht darüber hinaus, einfach zu versuchen, etwas Bestimmtes zu meistern. Es erfordert die Fähigkeit, frühere Gedankenprozesse nochmals zu durchlaufen, während man neue Kontexte in Betracht zieht.«
Line-up:
Christian Scott (trumpet)
Matthew Stevens (guitar)
Lawrence Fields (piano)
Kris Funn (bass)
Jamire Williams (drums)
Louis Fouche III (alto saxophone)
Kenneth Whalum III (tenor saxophone)
Corey King (trombone)
Tracklist
CD 1:
01:Fatima Aisha Rokero 400
02:New New Orleans
03:Kuro Shinobi
04:Who They Wish I Was
05:Pyrrhic Victory Of ATunde Adjuah
06:Spy Boy/Flag Boy
07:vs. The Kleptocratic Union (Ms. McDowell's Crime)
08:Kiel
09:Of Fire
10:Dred Scott
11:Danziger
CD 2:
01:The Berlin Patient
02:Jihad Joe
03:Van Gogh (Interlude)
04:Liar Liar
05:I Do
06:Alkebu Lan
07:Bartlett
08:When Marissa Stands Her Ground
09:Cumulonimbus
10:Away
11:The Red Rooster
12:Cara
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