Zur letzten Veröffentlichung Nadine Maria Schmidts, damals noch mit dem Projekt Nylonsaiten und Saitenstrümpfe, hatte ich noch geschrieben, dass ich eigentlich etwas Deutschsprachiges erwartet hatte, bewahrheitet sich diese Vermutung mit dieser neuen Platte. Keine Nylonstrümpfe mehr - 'frühmorgens am Meer' ist nun das Thema. 'Blaue Kanten' = 'Waterkant'? Versuche ich eine Assoziation herbeizuphilosophieren, die es gar nicht gibt?
Eines habe ich jedoch schnell bemerkt: Ein Brückenschlag ist auf jeden Fall stimmungsmäßig zu beobachten, denn die Musik der Platte wird von einer oft melancholischen Stimmung durchzogen - so, wie man es auch frühmorgens am Meer erleben kann. Gleichzeitig verbinde ich den 'Morgen' mit einem 'Anfang' - dem Anfang des Tages und die Melancholie der Musik bedeuten nicht, dass gewisse 'Endzustände' beschrieben werden, sondern Hoffnung auf das, was der Tag noch bringen möge, wird gleichermaßen ausgedrückt. »Das Leben ist schön und ich bleib… bis der Morgen kommt.« Die Vielseitigkeit, die mich beim Vorgänger zu verschiedenen Assoziationen veranlasste, sehe ich bei dieser Produktion nicht in dem Maße. Ich empfinde die Stimmung eher als durchgängig einheitlich.
Die Musik ist aus meiner Sicht etwas ruhiger geworden, bis auf die Stimme Nadines, die nach wie vor mit viel Energie in alle Richtungen arbeitet - von sanft über frech, von weich bis kratzig, oder gar kratzbürstig? »Mit Deinen Stiefeln trittst Du nieder, was ich erbaute und was Dir fehlt.« In deutscher Sprache ist der Gesang aus meiner Sicht gewöhnungsbedürftiger als in Englisch, denn die deutsche Sprache ist weit weniger geschmeidig und bei der Ausprägung bestimmter Textzeilen oder einzelner Wörter steht dies dem gesanglichen Fluss leider manchmal im Weg.
Die Instrumentierung ist für mich einwandfrei, sehr feinfühlige Arrangements verbreiten eine sehr harmonische Stimmung, man könnte es fast 'Kammer-Pop' nennen. Nur ist es nun der Gesang, der die Harmonie mitunter hart unterbricht, allerdings noch nicht beim Opener, ein zunächst als zarte Pianoballade startender Song, wo beide Elemente die für mich stimmigste Einheit bilden. Ab Minute drei bringt der Einsatz der übrigen Instrumente etwas Farbe in dieses wunderschöne Lied, das für mich übrigens wie ein 'Aufhänger' ist - der heimliche Hit von "Blaue Kanten". Bereits im zweiten Titel wird die ruhige Atmosphäre vom kontrastierenden Gesang erstmals in die Schranken verwiesen, mir fehlt hier etwas die Einheit im Ausdruck.
Im Übrigen fällt mir auf, dass Nadine versucht, viele Nuancen der Stimme zu präsentieren - manchmal einfach zu viel, weil sie nicht in allen Bereichen eine gewisse Ausdruckssicherheit beherrscht. In manchen Momenten wirkt ihr Gesang leicht gepresst - in anderen geht das schon fast in Richtung von Hildegard Knef. Dies immer dann, wenn sich die Musik in Richtung Chanson bewegt, was Nadine übrigens gut steht. Als Beispiel sei hier "Olaf" genannt - eine der Nummern, die für mich inklusive des Harmoniegesangs atmosphärisch insgesamt sehr stimmig sind.
"Wenn sie geht" ist auch ein wunderschönes Lied mit Kontrasten, angefangen von einer sehr dunklen Stimmlage - die mich nicht so überzeugen kann - bis dann die Zeile vier erscheint, wo Nadine singt, »Deine nackten Füße bei ihr als sie ging und nicht wiederkam.« und anschließend »Und ich sehe, wie Du Dich um sie drehst.«. Hier hat sie aus meiner Sicht ihre stärkste Ausdruckskraft und das ist genau die Stimmlage, die perfekt zu ihr passt. Dies sollte ausgebaut werden, denn hier sehe ich eine persönliche Note. Ansonsten ist dieser Song einer meiner weiteren Favoriten, auch weil im Arrangement ein Cello sehr ausdrucksstark eingesetzt wird und die Stimmung sehr verstärkt. Mit Track acht wird die bisher eher melancholisch-zurückhaltende Ausrichtung durch einen leichten Groove unterbrochen. Dieser Titel erinnert mich an alte Songs von Ulla Meinecke - eine gute Abwechslung einerseits, ein Fremdkörper andererseits.
Zwei Songs sind es, die mir nicht so gefallen, einmal ist das "Am Meer" (ausgerechnet der!), weil mir die Stimmung gesanglich nicht so ansprechend serviert wird. Ich muss allerdings dazu sagen, dass ich hinsichtlich solcher Themensongs etwas verwöhnt durch die Arbeit von Helmut Debus bin, der das treffender umzusetzen weiß. Der letzte Titel sagt mir ebenfalls so gar nicht zu. Den weitgehend gehauchten Gesangsmomenten kann ich nicht viel abgewinnen. Text, Aussage und Gesang bilden für mich keine Einheit und lassen den Song ein wenig 'außen vor`.
Auf meiner persönlichen Habenseite steht dafür wieder "Janecks Schloss". Sehr eindringlich wird das Bild eines Außenseiters geschildert und dies musikalisch auch treffend vermittelt. Da ist diese gewisse Mystik, wie ich sie in Musik mag. Mystik ist auch die Überleitung zu "Unausgesprochen", das einen starken Bezug zum Mittelalter aufweist - ein Song, der aus dem Repertoire von Ougenweide stammen könnte. Eine interessante Ausnahmeerscheinung der Platte, fürwahr…
Ein 'namenloser' Song ist auch dabei, Track zwölf. Nadine schreibt dazu im Booklet: »In diesem Lied könnt Ihr Euch Eure persönliche Überschrift ausdenken und in die Lücke schreiben.« Wir haben es zu Hause mehrmals laufen lassen und kamen überein, den Song "Mutter" zu nennen (als Hintergrund zu: leibliche Mutter gibt ihr Baby weg, das Kind wird von Pflegeeltern groß gezogen).
Oft wird der bundlose Bass eingesetzt und erzeugt eine angenehm treibend-singende Stimmung, schön, dass nun - im Gegensatz zum Vorgänger - auch ein Schlagzeug eingesetzt wird, das der Musik mehr Professionalität verleiht. Meine beiden 'Wünsche' bei der letzten Rezension wurden insofern erfüllt, nur das Piano hat noch keinen größeren Spielraum erhalten. Schade, denn Momente, dafür hätte es durchaus bei einigen Stücken gegeben. Vielleicht beim nächsten Mal?
Die Produktion dieser Platte wurde übrigens mittels "Crowdfunding" ermöglicht, einem System, das in den Vereinigten Staaten schon länger gang und gäbe ist. So konnte man bereits vorher das Album kaufen und vorfinanzieren. Entsprechend bedankt sich die Band im Booklet umfassend bei allen Spendern namentlich.
Persönliches Fazit: Mir gefällt die 'englische' Platte besser, aber das ist letztlich mein subjektiver Eindruck - ansonsten sind beide für mich musikalisch gleichwertig.
Line-up:
Nadine Maria Schmidt (Gesänge, Gitarre)
Till Kratschmer (Klavier, Melodika)
Chris Turrak (Bass)
Karl Blütchen (Schlagzeug)
Gäste:
Moritz Brümmer (Cello - #4,9,11)
Monsterchor (unter der Leitung von Alessandro Zuppardo - #6)
| Tracklist |
01:Das Leben ist schön
02:Verdammt nochmal, das heißt fliehen und nicht fliegen
03:Von Sonne, Mond und Bären
04:Wenn sie geht
05:Olaf
06:Monstersong
07:Maria
08:Raus hier
09:An Dir vorbei
10:Am Meer
11:Unausgesprochen
12:...
13:Bitte lob' mich
14:Janecks Schloss
15:Tapezierte Blumenwände
(Texte und Songwriting aller Titel: Nadine Maria Schmidt)
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