Secret Oyster / Vidunderlige Kælling
Vidunderlige Kælling
Selten so ein aufregendes, erotisch ästhetisches Cover gesehen, wie das vom dritten Album der dänischen Band Secret Oyster. Eine schöne, nackte Frau, mit feuerrotem Afrolook, deren Körper sich golden vom schwarzen Hintergrund abhebt. Verharrt in einer Pose, die man einfach nur als sinnliches Symbol beschreiben kann.
Wenn ein Cover Lust auf die Musik macht, dann das hier! Doch was erwartet nun den Hörer? Ich habe nie vorher etwas von Secret Oyster gehört, die als 'Danish Supergroup' angepriesen wird. Aus dem Begleitschreiben der PR-Agentur und aus spärlichen Hinweisen im Internet entnehme ich zumindest die Information, dass ein Teil der Band früher bei Burnin´ Red Ivanhoe spielte, in den 70er Jahren zusammen mit Savage Rose die international bekannteste Band aus dem kleinen Nachbarland.
Weiter heißt es im 'Beipackzettel' dass es sich um eine Jazzrock-Formation handelte, deren Musik die Fans von Soft Machine, Mahavishnu Orchestra und Return To Forever ansprechen soll. Also eher von Bands, die den Begriffen Fusion und Avantgarde zuzuordnen sind, als bläsergeprägte Formationen wie die frühen Chicago, Blood Sweat & Tears oder rockmäßig orientierte wie Colosseum.
Es handelt sich bei dem ursprünglich 1975 erschienenen Album um eine Auftragsmusik für ein Ballett des Choreographen, Tänzers und damaligen Direktors für Artistik des Königlich Dänischen Balletts, Flemming Flindt. Die Schöne auf dem Cover ist seine Frau Vivi Flindt, eine der bekanntesten Solotänzerinnen seinerzeit. Das auf Wiederveröffentlichungen spezialisierte Label 'The Laser´s Edge' hat es nun erneut aufgelegt.
Also dann mal rein in den Player. Ein erster Durchgang zum Antesten noch nicht mit voller Konzentration. Es geht mit einem perlenden Keyboardmotiv los, Synthie-Streicher schweben darüber hin, das Schlagzeug treibt voran. Eine angezerrte E-Gitarre führt in das zweite, sphärische Stück mit Moog-Geplänkel, typisch Prog. Nichts was mich sonderlich anspricht, ich kann nebenbei bequem die Mailpost beantworten (immer langsam Freunde von der PR-Fraktion, es kommt schon noch…).
Dann erste jazzrockige Rhythmen, das Ding fängt an zu wirken, die Sinnesweiche schaltet auf 'Zuhören'. Es dauert nicht lang, dann weiß ich, an was mich das Ganze erinnert. Hölderlins wunderschönes "Clowns & Clouds" aus dem gleichen Zeitraum (veröffentlicht 1976) und auch Return To Forever´s erstes, gleichnamiges Album von 1972 meldet sich. Die Scheibe fesselt mich nun, und in der Nacht folgt ein zweiter Hördurchgang mit dem Kopfhörer, was sich, ebenso wie bei den drei anderen Referenzalben, besonders lohnt.
Und gleich ein drittes Mal hinterher, diesmal wieder über die Boxen. Nicht, weil ich ein besonders akribisch und analytisch vorgehender Rezensent bin, sondern weil die Dänen einfach ein so tolles Stück Musik fabriziert haben, an dem ich mich nicht satthören kann.
Der vierte Track "Astarte" ist ein erster Höhepunkt; das Stück baut einen sich verdichtenden Spannungsbogen auf, bei dem auch eine Sitar kräftig mitmischt. Fast wie eine klassische Klavier-Sonate dann "Solitude" - schön elegisch, das vom akzentuierten "Tango-Bourgoisie" (eine kleine Persiflage) abgelöst wird. Das Schlagzeug-Intro kündigt den nächsten Jazzrock-Titel "Bellevue" mit Hancock-Keyboards und Samba-Einschlag an, bei dem ein seltsames Percussion-Instrument zum Einsatz kommt. Wahrscheinlich eine Talking Drum, hört sich aber eher an wie ein fränkischer Brummtopf …
Eine Harmonika verbreitet dann kurz trügerische Musette-Melancholie, bevor ein wahres Prog-Gewitter losbricht, das in einer Sound-Detonation (dem offiziellen "Outro") endet. Drei Tracks gibt´s auf der Neuveröffentlichung als Bonus, die sich glücklicherweise nahtlos anschließen. "Sleep Music"; langsame hypnotische Klänge, ambientmäßig mit nordisch-kühlen Garbarek'schem Tenor-Sax. Aera´s 1971er "Humanum Est" lässt grüßen.
Ganz anders dann die Alt-Version beim nachfolgenden Solo "Circus Sax". 4:42-Minuten singende, jauchzende Melodienbögen und davon keine einzige Sekunde nervig. Der letzte Track setzt einen kurzen, knalligen Schlusspunkt unter ein begeisterndes und zeitloses Werk, dessen Wiederveröffentlichung hoffentlich nicht untergeht. Ich kann es allen Fusion- und Prog-Rock-Fans nur an Herz und Löffel legen, zumal die Klangqualität 1A ist!
Das Label hat bereits angekündigt, dass auch die anderen fünf Alben von Secret Oyster neu aufgelegt werden. Ich bin gespannt!
Das Cover ist viel versprechend. Die Musik erweist sich als adäquat sinnlich. Die Aufführungen beschreibt der Albumtext zwar als hinter den Erwartungen der Band zurückgeblieben, jedoch sehr erfolgreich. Nahe liegend die Begründung für die Publikumswirksamkeit: Nicht nur Vivi Lindt sei nackt gewesen, auch alle anderen Akteure in kurzen Szenen … und es heißt weiter, dass das im seinerzeitig liberalen Dänemark (1975 - und heute?) im viel gelesenen Blatt 'Ekstra Bladet' mit Bildbeiträgen und in Leserzuschriften eine Woche lang groß thematisiert wurde. Ausgangspunkt für das Ballet war das Werk von Jens August Schade, über den ich bei ‚Wissen.de' folgende Beschreibung gefunden habe:
"Dänischer Lyriker, * 10. 1. 1903 Skive, † 20. 11. 1978 Kopenhagen; ein Bohemien, dessen erotische Dichtungen oft schockierend wirkten; surrealistisch-mystische Lyrik und Romane mit ironischem Einschlag."
Auch das Ballett wird in vielen Szenen zwar als zur Revue abgeschmackt beschrieben, 'fairerweise' jedoch ebenso als sehr extravagant und bewegend. Nun, bei den Geistern von Schade und auch Bellmann: Ich hätte, verdammt, dieses Ballett gern gesehen (oder ersatzweise als DVD rezensiert)! Aber zum Trost: Manchmal ist der erotische Genuss in der Fantasie größer als in der nackten Wirklichkeit.
Und ob ich heute, fast auf den Tag genau 30 Jahre nach der Uraufführung, auch ein Remake mit Vivi Lindt und all den anderen Tänzern/innen von damals noch als wirklichen Genuss empfinden würde? Sind doch schon die in S&D&R´nR gealterten Musiker zumeist fürchterlich desillusionierend....
Was "Vidunderlige Kælling" (die LP erschien in den U.S.A. als "Astarte") heißt, hab ich übrigens nicht herausgefunden. Vielleicht "Wonderful Bitch", was auch groß auf der Mittelseite des Booklets steht. Nun mit dieser Berufsgruppe hatte ich noch keinen Verkehr, die erste Erfahrung mit der zu besprechenden CD aus dem Kontakthof von Prog-Rock war aber eine durchaus Lustvolle.
Dafür lass ich gern wieder ankobern.


Spielzeit: 48:58, Medium: CD, The Laser's Edge, 2005 (1975)
1:Intro 2:Stjernerne på gaden 3:Sirenerne 4:Astarte 5:Solitude 6:Tango-Bourgoisie 7:Bellevue 8:Valse du Soir 9:Outro Bonus Tracks: 10:Sleep Music 11:Circus Sax 12:Intro to Act II
Norbert Neugebauer, 06.12.2005