Der Stapel zu besprechender CDs neben dem Rechner wächst stetig. Seit Tagen werden Strategien zum Selbstbetrug entworfen. Wie kann ich es vor mir selbst verantworten, mich noch einen weiteren Tag ausschließlich mit dem Album "Room V" von Shadow Gallery zu beschäftigen? Warum kann ich die Review dazu erst frühestens Morgen fertig stellen, damit ich sie noch länger reinen Gewissens über den Laser hoppeln lassen kann?
Na klar, der wahnsinnige Gitarrenlauf bei Minute 1:38 von "The Archer of Ben Salem" muss zur Sicherheit bei gerade noch zu ertragender Lautsstärke das siebente Mal analysiert werden.
Um die passenden Worte zu finden, muss unbedingt noch mal der elfenschöne Refrain von "The Andromeda Strain" mindestens, sagen wir, 5 mal intensiv gehört werden.
Ach ja, und die bezaubernde Stimme von Laura Jaeger im Duett mit Mike Baker in "Comfort Me" ist ein Schwerkraftzentrum der CD, das man nicht leichtfertig beschreiben sollte, ohne es nicht auch im Bett, im Badezimmer, im Wintergarten und über Kopfhörer angecheckt zu haben.
Shadow Gallery kommen dieses Jahr mit einem kolossalen Werk heraus. "Room V" steht für Progressiven Rock der Champions League. Die Harmonien sind auskomponiert und ergreifend. Die Komplexität der Songs ist hochgradig, wobei sie genau und vielleicht sogar gerade deswegen zielgenau ins limbische System treffen.
Die Musiker agieren versiert, wenn nicht gar virtuos, aber ohne das Gefühl des musikalischen Narzißmus zu verbreiten. Die Details und Finessen im Spiel, die Läufe, die irisierenden Soli und sonstigen Kabinettstückchen sind mit atemberaubender Sicherheit und Feingefühl für die Arrangements positioniert. Nichts wirkt zufällig. Die Facetten verweben sich zu einer faszinierenden Struktur und projizieren das Konzept des Albums als Ganzes auf die Trommelfelle der Musikfans.
Shadow Gallery agieren am Limit. Aber sie fliegen nie ab! Und das über die gesamte Rundenzeit von 75:35 Minuten! Donnerwetter!
Seit ungefähr 50 Jahren befinden wir uns im Zeitalter der Gitarre. Einen weiteren Beweis dafür treten Brendt Allmann und Gary Wehrkamp an. Der exklusive Club der Gitarrenritter hat Zuwachs bekommen. Die beiden zeigen auf "Room V", was mit der Gitarre so alles geht. Sie spielen rasend schnelle Soli und Läufe mit zig Noten pro Minute, aber ohne, dass eine davon überflüssig wäre. Sie braten und knüppeln brachiale, schnelle oder fette Hard-Rock Riffs heraus, je nach Bedarf. Natürlich darf auch ab und an die Akustikgitarre für die rechte Atmosphäre sorgen.
Joe Nevolo macht mit seinem kraftvollen Schlagzeugspiel mehr als einen Abschnitt zu dem, was man als Speed Rock bezeichnen könnte. Wenn die Riffs und Melodien dicht werden, wenn sie Tiefe und Substanz bekommen, dann heizt dieser Bursche das Tempo so richtig an. Double-Bass-Bursts jagen sich, die Becken explodieren und die Snare fungiert als Turbolader.
Befinden wir uns auch im Zeitalter der elektronischen Keyboards? Wer Carl Cadden-James zuhört, könnte auch das meinen. Ob er mit Pianoklängen operiert, spacigen Klangsphären oder brachialen Orgelsounds. Dieser Keyboarder überlädt die ihm anvertrauen Stücke nicht, er bereichert sie mit kreativen Tastenspiel. Ach ja, die Flöte bedient er auch. Eine feine Kostprobe davon liefert er beispielsweise bei "Torn" ab. Darüber hinaus ist er noch für den Tieffrequenzbereich zuständig. Auch am Bass macht Carl eine tadellose Figur. Sicher ist sein Spiel nicht so exponiert wie das eines Chris Squire, aber seine Rhythmik ist tadellos. Zum genießen ist die Bassbegleitung des doppelläufigen Gitarrensolos in "Room V" bei Minute 3:32.
"Room V" ist die Fortsetzung der mit "Tyranny" 1998 begonnen Story um zwei Leutchen auf der Suche nach einer neuen Identität. Die 14 Stücke auf "Room V" gliedern sich zu den Akten 3 und 4 der Geschichte. Schwer zu raten, wie dann die Stücke auf "Tyranny" heißen, oder?
Wie soll man bei einer solch durchgängig brillanten Scheibe Anspieltipps selektieren? Kaum möglich ist das. Skippt einfach mal rein, ihr könnt keine miese Stelle erwischen. Egal, ob ihr gleich mit dem schnellen, feurigen und instrumentalen "Manhunt" beginnt, dass euch alles um die Ohren fetzt, was vorhanden ist. Oder ob ihr euch zuerst vom teils lieblichen, teils ergreifenden "Comfort" verzaubern lasst. Wie wäre es denn mit dem harten Eingangsriff von "The Andromeda Straits"? Faded aber bitte nicht vor dem Refrain wieder raus. Auch das sanftere "Vow" ist empfehlenswert. Manche mögen sich mit "Birth Of A Daughter" beschäftige wollen. Das sphärische Keyboardfundament vor dem Tempoanstieg allein ist schon ein Öhrchen wert und die Speed-Phase danach erst! Oder erlebt, wie in "Lamentia" das Melodiethema von "Comfort Me" wieder aufgegriffen wird.
"Room V" reiht sich bei mir gleicher Höhe ein wie "The Kindness Of Strangers" von Spock's Beard und "Rainmaker" von The Flower Kings. Shadow Gallery haben ein Referenzwerk in Sachen Progressive Rock geschaffen. Weinen möchte man vor Begeisterung, dass heutzutage noch solche Alben gemacht werden.
Was bleibt, außer 10 seltenst erreichte RockTimes-Uhren zu vergeben und heute noch im Internet die restlichen Alben der Band zu ordern?
Spielzeit: 75:36, Medium: CD, InsideOut Music, 2005
1:Manhunt,2:Comfort Me,3:The Andromeda Strain,4:Vow,5:Birth Of A Daughter,6:Death Of A Mother,7:Lamentia,8:Seven Years,9:Dark,10:Torn,11:The Archer Of Ben Salem,12:Encrypted,13:Room V,14:Rain
Ella Wirtz, 30.05.2005
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