Authentizität? Was für ein hochgestochenes Schlagwort für eine eigentlich simple Sache... Die meisten Americana-Produktionen, die ich kenne - und das sind eine unüberschaubare Menge! - müssen sich ducken, wenn diese unbekannten Musiker loslegen. Das steht so mitten im normalen Amerika, so mitten im Lebensgefühl aller derjenigen, die wissen, was ein Trailer-Park ist, dafür nicht wissen, wie sie als 'working poor' die nächste Miete bezahlen sollen, dass es schon beängstigend ist.
Dies ist der unverfälschte, echte Stoff, aus dem die Albträume gemacht sind! Wer die USA noch nie besucht hat oder dort nur als verwöhnter Pauschaltourist das nie wahrnehmen konnte, kann das sicher nicht nachvollziehen, aber Leute: Das ist real! Die Lebensbedingungen der Verlierer der Gesellschaft sind fast unglaublich!
Sicherlich sind das Ehepaar Kelly Bell und Carey Kemper und ihr Mitstreiter Barry Haney am Bass keine Virtuosen. Es ist wohl auch wenig Zeit, wenn man drei Kinder ernähren muss. Aber sie haben etwas, was andere sich nur erträumen! Virtuosität würde nur stören und wie so oft bei den angeblich Hochbegabten, den Whiskey mit Wasser verdünnen. Hier gibt es keinen Schönklang oder Schaulaufen des Erfolgs willen.
Diese Leute sind (oder waren, die Spuren haben sich verloren) auf Dauertour durch Amerika, auf endlosen, staubigen Highways, in billigen Motels übernachtend, dabei aber auch, so platt das auch klingen mag, die Freiheit atmend. Hier nochmal das Wort, das dazu passt: Authentizität! Davon ist ein im Autopilot-Modus operierender, stumpfsinniger endlos-das-amerikanische-Kopierer wie etwa Eric Clapton so weit entfernt wie der Mond...
Die Musik der Shivers hat soviel Stilkenntnis und Durchsetzungswillen, dass es auch doch wieder schön ist, wenn 'schön' das Wort der Wahl wäre. Die Musik ist mehr als das. Carey Kemper hat sicher keine Stimme, mit der er einen Blumentopf gewinnen könnte, aber das ist auch nicht das Ziel. Die einfachen Aussagen einer Liebe zu Frau und Kindern und der Hoffnung, es irgendwie zu schaffen sind mehr wert als aller studiogetrimmte Voodoo.
Seine Frau Kelly dagegen überflügelt mit Einfühlungsvermögen und astreiner Intonation die meisten 'Großen'. Dagegen sind eine Sheryl Crow oder auch Melissa Etheridge nur ausdruckslose Akrobatinnen. Kelly Bell beherrscht es, große Gefühle so umzusetzen, dass beim Hörer sowohl Anerkennung wegen ihrer stimmlichen Qualitäten als auch Betroffenheit wegen der Beklemmung der Aussagen ausgelöst wird. Die Frau schafft es tatsächlich, bei mir als eigentlich gegenüber Sängerinnen immunem (oder: ignorantem?) Rockfan Gänsehaut entstehen zu lassen. Nur wenige schaffen es, bei mir einen Eindruck zu hinterlassen. Kelly Bell steht unzweifelhaft in erster Reihe derjenigen, denen das gelingt. Für mich persönlich ein Ritterschlag!
Wo gab oder gibt es sowas noch? Da muss man wirklich lange suchen! Ob man fündig wird, ist eine Sache, ob das dann auch noch glaubwürdig erscheint, wenn man das Ganze mal durch einen Realitätscheck laufen lässt, ist eine ganz andere Sache...jeder Musikfan weiß, was gemeint ist.
Die Songs? Treibend, schwitzend, mystisch, einschmeichelnd, der Dreck der Strasse ist überall rauszuhören. Ob das von der Gitarre getriebene "Rivers", das rockige "Almost Gone", das schmutzige "Red Cats", alle mit den hingerotzten Gitarrensoli, die das wirkliche Leben widerspiegeln, das be(un-)ruhigende "Gentle" bzw. das leise, nachdenkliche "Things Ain't Simple" - hier gibt es kein Füllmaterial. Selbst ein Blues - der natürlich wieder keiner ist ("Heart Of Texas Blues") macht klar, wer sowas vortragen darf und wer nicht. Das rhythmisch fesselnde "Never Leave Nevada" hat mich dann auch während der langen Fahrt durch die Mojave-Wüste von Las Vegas nach Los Angeles begleitet, und dem Text nach war ich froh, als wir die Nevada/California State Border überschritten hatten. Uhh, wir haben's geschafft!
Der Klang indes ist alles andere als "low-fi". Mit dem packendem Sound ist auch der anspruchsvolle Hörer mehr als zufrieden, da passt alles. Schon die unverfälschten Ecken und Kanten der elektrischen Gitarren sind umwerfend, die Balance zwischen den Instrumenten wurde sehr natürlich eingefangen. Hier ist die Aussage ganz klar: Das ist (wesentlich) mehr als es zu sein scheint. Wenn ich mal wieder meine 20 Inselplatten angehe, wird eine von mir als hochkarätig eingeschätzte Platte einer ebenso hochkarätig eingeschätzten Band zwangsläufig dieser im Sinne des Wortes als 'Americana' zu bezeichnenden Platte den Platz räumen müssen.
Eine einsame Insel ohne diese CD der Shivers wär für mich geradezu grausam, eine Platte, die mich seit ihrem Erscheinen nie mehr losgelassen hat.
Spielzeit: 45:25, Medium: CD, Restless Records, 1995
1. Silver City Rain 2. Rivers 3. Almost Gone 4. Never Leave Nevada 5. Love Other Gone
6. When I Fall 7. Good As Things Are 8. Things Change 9. Gentle 10. Red Cats
11. Heart Of Texas Blues 12. Dreamtime With A Wanted Man
Manni Hüther, 11.8.2005
Externe Links:
Die Band scheint nicht mehr zu existieren und hat keine Website. Beim ehemaligen Vertrieb gibt es die CD auch nicht mehr. Wer irgendwo (eBay?) eine ergattern kann, sollte sofort zuschlagen... Die Shivers haben 1996 mit "The Buried Life" noch eine Nachfolgeplatte ähnlicher Qualität veröffentlicht, aber die besseren Songs findet man auf dem Debut.
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