Manchmal bedarf es einfach eines unerwarteten Anstoßes von außen, um daran erinnert zu werden, was für Perlen der Musik man in seiner eigenen Sammlung hat. Dieses Mal war es ein kurzer Beitrag im Rahmen eines Artikels im Print-Magazin Good Times über die Hamburg Blues Band. Diese hat - so hieß es darin - im Rahmen ihrer Feierlichkeiten zum 30-jährigen Bestehen der Band Anfang des Jahres 2012 ein paar Konzerte mit dem Staatsorchester Braunschweig gegeben und dabei William Russos "Three Pieces For Bluesband & Orchestra" aufgeführt. Dieser Hinweis erinnerte mich sofort an die Originaleinspielung dieses Werkes durch The Siegel Schwall Band mit dem San Francisco Symphony Orchestra unter der Leitung des genialen japanischen Dirigenten Seiji Ozawa, die im Jahr 1973 erfolgte und die hier bereits kurz erwähnt wurde).
Als damals bereits Blues-Fan und noch klassisches Klavierspiel Lernender war ich von dem Werk sofort begeistert, auch wenn mir der Name des Komponisten William Russo überhaupt nichts sagte. Aber ich gehe davon aus, dass dieses auch heute noch für viele - und auch die RockTimes-Leser - zutrifft, so dass ich etwas weiter ausholen darf.
William Russo war im vorigen Jahrhundert ein amerikanischer Jazzmusiker (Posaune und Piano), der aber auch als Komponist und Arrangeur arbeitete und sich in den sechziger Jahren der Komposition symphonischer Werke widmete. Die Idee aber für die vorliegenden "Three Pieces For Bluesband And Orchestra" hatte allerdings Seiji Ozawa, der im Sommer 1966 Stammgast in einer Bar in Chicago war, in der The Siegel Schwall Band auftrat. Dabei kam ihm die Idee, die Band für eines seiner Orchesterwerke zu engagieren, was zu jener Zeit - noch deutlich vor dem "Concerto For Group And Orchestra" von Deep Purple - durchaus als ein extravagantes und gewagtes Experiment anzusehen war. Während Ozawa das Dirigat für ein klassisches Werk von Russo inne hatte, kam es zu einem Zusammentreffen der beiden, bei dem die Pläne für ein 'Blues Concerto' besprochen wurden. Im Jahr 1968 - um die Geschichte ein wenig abzukürzen - kam es zur Uraufführung der "Three Pieces" und in den Folgejahren noch zu weiteren Aufführungen, bis das Werk im Jahr 1973 endlich auf Vinyl gepresst wurde.
24 ½ Minuten reichten gerade für eine LP-Seite, so wurden auf die Rückseite Leonard Bernsteins "Symphonic Dances From West Side Story" gepresst; auch das ein für die damalige Zeit recht avantgardistisches Werk. Herausgebracht wurde die Scheibe von dem renommierten Klassik-Label Deutsche Grammophon unter der Nummer 2530 309.
Blues-Band und Symphonie-Orchester: Sind das nicht totale Gegensätze? Ja und nein! Und wenn schon, ziehen sich Gegensätze nicht auch an? Das Ganze ist jedenfalls kein 'Easy Listening', sondern fordert vom Hörer die Bereitschaft, sich mit diesen Gegensätzen auseinanderzusetzen. Ich war dazu seinerzeit - und heute immer noch - bereit und habe das Werk 'verschlungen'. Als dann das Zeitalter der CD kam, habe ich sehnsüchtig danach gesucht, dass "Three Pieces" endlich digitalisiert würde, da meine Langspielplatte doch in den Jahren arg gelitten hatte.
1988 erschien dann endlich eine CD der Deutschen Grammophon unter dem Titel "Rhapsody In Blue", auf der - neben dem Titelsong und einigen Jazz- bzw. Ragtime-Standards - auch "Three Pieces For Blues Band And Symphony Orchestra" gepresst war, allerdings leider nur deren zweiter Teil. So musste ich bis zum Jahr 2002 warten, bis die Deutsche Grammophon in der Reihe "The Originals", in der - nach eigenen Angaben - »legendäre Aufnahmen aus unserem LP-Katalog, die hier auf CD in einmaliger Klangtreue wiedergegeben werden«, das gesamte Werk wiederveröffentlichte. Diese Veröffentlichungsreihe zeichnen - wiederum nach eigenen Angaben - »von der Kritik gefeierte Einspielungen berühmter Interpreten der LP-Ära und herausragender Künstler von heute [aus], deren erste Meisterstücke die Deutsche Grammophon auf der schwarzen Scheibe dokumentiert hat«.
Und in der Tat: "Three Pieces" sind - aus meiner Sicht - ein absolutes Meisterstück, das ich jedem Blues-Fan, der bereit ist, über den 12-Takter-Tellerrand hinaus zu hören, nur wärmstens empfehlen kann. Beschreiben, was einen erwartet, vermag ich an dieser Stelle nicht, zu subjektiv - und wahrscheinlich zu ausschweifend - wäre diese Schilderung. Ich erlaube mir daher, erneut aus dem Booklet zu der Veröffentlichung aus dem Jahr 2002 zu zitieren:
»Russo's "Blues Pieces" […] lassen den Blues-'Solisten' weitgehend freie Hand: in ihren Stimmen sind vorwiegend Rhythmen, nur selten aber Tonhöhen festgelegt. Die Orchesterstimmen sind dagegen durchweg ausnotiert; nur wenige Passagen bieten Gelegenheit zur Improvisation.
Der erste Satz beginnt mit einem Rezitativ der 'Blues-Harfe' über tiefen Streicherakkorden (die Harmonika improvisiert, während die Streicherstimmen ausnotiert sind) und geht dann über in einen Shuffle, den die Band in ihrem Titel "Mary" verwandte: Das Modell - ursprünglich als Song-Introduktion konzipiert - wird hier als abstraktes Riff vorgestellt. Den Concertino-Part der Band umspielt das Orchester mit lang gezogenen, dissonanten Melodielinien, und das ergibt einen Effekt, der an Bandmontagen erinnert.
Der zweite Satz, ein langsamer Blues, entwickelt sich aus einer Bassmelodie, die die Band in ihrem Titel "My Baby Thinks I Don´t Love Her" gespielt hatte. Bemerkenswert sind in diesem Satz die solistischen Passagen der ersten Oboe und der ersten Violine im Orchesterpart.
Das Finale basiert auf einer traditionellen Bass-Stimme, die von Junior Wells' Aufnahme "Tribute To Sonny Boy Williamson" angeregt sein mag - und hier sind die Kontraste zwischen der Band und dem Orchester besonders stark.«
Alles klar? Wahrscheinlich nicht, aber solch ein Werk kann man auch eigentlich nicht mit Worten beschreiben oder gar erklären. Das muss man hören und auf sich wirken lassen. Ich möchte an dieser Stelle ein weiteres Zitat - leicht abgewandelt - einfließen lassen, nämlich von Richard Gere aus dem Film "Pretty Woman": »Leute, die zum ersten Mal "Three Pieces For Blues Band And Orchestra" hören, reagieren oft sehr überraschend. Entweder mögen sie "Three Pieces", oder sie hassen sie. Wenn sie "Three Pieces" lieben, dann ist es für immer. Die andern - tun mir leid. Denn die Musik wird nie ein Teil ihrer Seele werden.«
Nun gut, ich bin da etwas toleranter und akzeptiere auch, wenn jemand mit dem Werk nichts anfangen kann. Dennoch ist es für mich eine 'Perle', die es wert ist, hier vorgestellt zu werden, damit sie nicht endgültig in Vergessenheit gerät.
Nur nebenbei sei angemerkt, dass der Speicherplatz der CD ausreichte, neben dem vorgestellten Werk auch eine weitere, aus vier 'Movements' bestehende symphonische Komposition von William Russos "Street Music" aufzunehmen, bei der ebenfalls Corky Siegel mit Harmonica und Piano mitspielte. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1977 und war seinerzeit von der Deutschen Grammophon unter der Nummer 2530788 veröffentlicht worden. Darauf war ebenfalls gepresst Gershwins "An American In Paris"; auch dieses Werk passte noch auf die CD im Jahr 2002, so dass man mehr als 73 Minuten hörenswerte Musik geboten bekommt.
Das Cover der vorliegenden CD gibt die ursprüngliche LP-Hülle der "Three Pieces" wieder und hebt damit deren besondere Bedeutung hervor. Die im gelben Kasten wiedergegebenen Titel entsprechen lediglich der aktuellen Pressung; "Three Pieces", "Street Music" sowie "An American In Paris" hat es nie auf einer gemeinsamen LP-Ausgabe gegeben. Allerdings erschien ebenfalls im Jahr 1977 eine LP unter dem Namen der Siegel Schwall Band auf dem Label Polydor, auf der die beiden Russo-Werke zu hören waren; ein Hinweis auf die Zusammenarbeit mit dem San Francisco Symphony Orchestra ist dem Cover nicht zu entnehmen. Es ist daher das Verdienst dieser CD, diese artverwandten Stücke zusammengeführt zu haben.
Line-up:
Siegel-Schwall Band:
Corky Siegel (electric piano, harmonica)
Jim Schwall (guitar)
Al Radford (bass)
Shelly Plotkin (drums)
San Francisco Symphony Orchestra unter der Leitung von Seiji Ozawa
Tracklist |
01:Street Music - 1st Movement (8:16)
02:Street Music - 2nd Movement (5:17)
03:Street Music - 3rd Movement (8:52)
04:Street Music - 4th Movement (8:53)
05:Three Pieces For Blues Band - 1 (8:08)
06:Three Pieces For Blues Band - 2 (8:58)
07:Three Pieces For Blues Band - 3 (7:11)
08:An American In Paris (18:03)
|
|
Externe Links:
|