Siena Root / Kaleidoscope
Kaleidoscope
Selten war der Rezensent auf eine neue Musikveröffentlichung derart gespannt wie in diesem Fall. Letztes Jahr hatte innerhalb unserer Redaktion nicht nur bei mir das schwedische Quartett Siena Root mit seinem Debütalbum "A New Day Dawning" wie eine Bombe eingeschlagen. Der Bandname ist dabei Programm und der klassische Rock erfuhr mit einer derartigen Intelligenz, Liebe und Hingabe zitierender Weise seine wohlverdiente Wiederauferstehung, ohne dabei als plattes Plagiat dazustehen, dass diese Scheibe fast zwangsläufig in den Rang eines Meilensteines des so genannten 'Retro-Rocks' gehoben werden muss.
Wobei mir persönlich dieser Terminus 'Retro-Rock' gar nicht behagt. Was heißt hier Retro? Im Musikgeschäft ist inzwischen alles Retro, außer den strategischen Bemühungen zur völligen Irrelevanz von Tonträgern.
Genau hier schlagen Siena Root und ihr kleines, aber feines Berliner Plattenlabel 'Nasoni Records' eine Kerbe, indem konsequent auf hochwertigem analogen Equipment aufgenommen und neben der CD-Ausgabe im optisch schicken Digi-Pack - Format auch das Vinylformat angeboten wird, sammlerfreundlich in streng limitierten Kleinstauflagen von 400 Stück (Black-Vinyl) und 100 Stück (Colored-Vinyl).
Das ist in meinen Augen heutzutage bei dem katastrophalen Geschäftsgebaren der großen Musikkonzerne fast schon wieder als innovativer, rebellischer und progressiver Weg zu bezeichnen. Also nix mit Retro!
Retro ist da schon vielmehr die optische Aufmachung des brandneuen Albums "Kaleidoscope", welches mir in der CD-Ausgabe vorliegt. Ich schaue verblüfft auf eine Cover-Art - Gestaltung, die wiederum den aktuellen Albumtitel zum Programm macht, denn wie durch ein Fernrohr erblicken wir ein vervierfachtes Bandfoto, stilecht in schwarzweiß gehalten. Beim Aufklappen erspähe ich noch verblüffter eine Tonbandmaschine anno 1970 mit Riesenspule und der Aufschrift "Two Track Stereo Master". Aha, denke ich, jetzt will es die Band aber wissen. Und tatsächlich, im achtseitigen Booklet mit Hochglanzpapier ist noch weiteres uraltes Aufnahme-Equipment abgebildet, offenbar aus dem Studio, in dem das neue Werk auch innerhalb von 2 ½ Wochen eingespielt wurde. Das nenne ich doch mal Konsequenz!
Da Siena Root die Messlatte für ihr zweites Werk verdammt hoch gehängt hatten, lege ich jetzt, noch neugieriger geworden als ohnehin schon, die Silberscheibe vorsichtig in den Phonosophen, drücke sanft die Playtaste, drehe den Lautstärkeregler auf 23.00 Uhr - Stellung und halte den Atem an.
Kurzes, bedrohliches Grollen aus dem Off, der Schlagwerker gibt den Beat vor und Rumms, die Band groovt in einem Style, der seit dem ersten Album bereits als eine Art Markenzeichen für Siena Root gelten darf. In der Folge weist Gitarrist und Organist KG West auf den 6 Saiten schon mal eindrucksvoll den Weg, wo der Hase hinlaufen soll. Dann gibt es einen Zeppelinschen Hammerriff und eine weibliche Stimme legt los, dass ich zunächst spontan an Grace Slick denken muss. Siena Root sind seit dem Sommer 2005 mit der exotischen Schönheit Sanya unterwegs, die inzwischen als festes Bandmitglied den bisherigen Sänger und Organisten Oskar Lundström abgelöst hat.
Das verleiht der Musik von Siena Root eine ganz neue und auch andere Note, und macht sie für meine Begriffe bei allen musikalischen Zitaten noch unverwechselbarer.
Bereits in diesem ersten Stück ("Good And Back") werden alle Register gezogen. Tempowechsel, ein großartiger Spannungsbogen, Atmosphäre pur, unterschiedlich verzerrter Gitarrensound …
KG West übertrifft jetzt schon seine Leistungen vom Erstling. Sogar ein großartig gefühlvolles und überraschend ausdrucksstarkes Bluesspiel hat er zwischendurch zu bieten. Famos!
Und der Klang der Scheibe?
Überirdisch!
Das Albumoutfit verspricht nicht zuviel. Ich vergebe jetzt schon begeistert 9 RockTimes-Uhren für ein authentisches, organisches und richtiggehend analoges Klangbild, wie es bei CDs viel, viel, viel zu selten vorkommt.
Beim folgenden "Nightstalker" gibt es dann, wie der Titel bereits vermuten lässt, textlich gehaltvolles und nachdenkliches, wobei Sanya hier als sensationell ausdrucksstarke Sängerin brilliert und mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagt. Ein saustarkes Stück, die Rhythmusabteilung Love H Forsberg (Drums & Percussion) und Sam Riffer (Bass) treibt das dramatisch anmutende Stück voran, inklusive eines klasse groovenden Teils mit Percussion und einer Wah-Wah, welche dem geschätzten Kollegen Ulli Heiser die Tränen in die Augen treiben dürfte.
(Anm: Stell' schon mal das Bier kalt, ich eile.... [Ulli])
Im anschließenden "Blues 276" kredenzt uns die Band doch glatt Töne aus dem weiten Feld des Texasblues, allerdings in einer Art und Weise (herrlicher Break im Mittelteil mit groovendem Basssolo), die ihr wiederum das Prädikat 'Unverwechselbar' einbringt. Meines Erachtens wohl die höchste Auszeichnung, die heutzutage einer jungen Band verliehen werden kann.
Zu dieser Unverwechselbarkeit gehört auch das Faible der Band für exotische Sitarklänge. KG West 'tobt' sich diesmal zu dem Stück "Bhairavi Dhun" aus, wobei er neben der Sitar auch eine Tanpura zu Gehör bringt. Kongenial unterstützt wird er dabei durch den Gast Anurag Choudhary (Flute).
Dann wird es noch atmosphärischer. Ganz langsam und fast bedrohlich baut sich ein Instrumental namens "Crossing The Stratosphere" auf. Seltsame Töne und Geräusche erklingen wie aus dem Off der Stratosphäre, hier spielt die Band einfach mal mit den Effektmöglichkeiten ihres Equipments, bis plötzlich die Wah-Wah von KG West reinknallt und Herr Riffer höllisch seinem Namen alle Ehre macht. Konterkariert wird das dann durch ein wunderbar feinfühliges Spiel auf den 6 Saiten, bis plötzlich eine fließende Überleitung zu "There And Back Again" erfolgt, wo Siena Root in meinen Ohren mal eben deutlicher, originaler, authentischer, glaubhafter und spannender nach Deep Purple klingen, als diese es heute selbst tun. Famos, aber andere Musikkollegen bestätigen meinen Eindruck nicht, sie fühlen sich nur bei den Orgelparts an Deep Purple erinnert. Ich behaupte aber mal, sie lassen sich dabei einfach nur vom weiblichen Gesang ablenken/irritieren.
Beim leider bereits vorletzten Stück "Ridin' Slow" bekommt die Band es wieder grandios hin, gewisse Motive aus der Rockhistorie zu zitieren, ohne dabei in stumpfes Plagitieren zu verfallen. Herrlich, die atmosphärischen Breaks, dieses irgendwie bekannte Grundmotiv, ohne dass ich jetzt genau wüsste woher, dann sogar noch ein Knattern von Motorrädern, unwillkürlich kommen mir Steppenwolf in den Sinn und KG West lässt zum Schluss mal kurz mit einem Augenzwinkern erkennen, dass er auch die Musik von Cream respektive das Spiel eines Eric Clapton verinnerlicht hat.
Ja, liebe Leute, und dann kömmts!
Der absolute Überhammer des Albums und wahrscheinlich auch des Jahres.
Die Orgel setzt vorsichtig ein, die Becken rasseln, eine vermeintliche Panflöte stimmt in das Orgelmotiv mit ein, welches sich immer mehr peu a peu herausschält, die Lautstärke schwillt an und wir sind mitten im wohl sensationellsten und spannendsten Instrumental, welches ich je gehört habe. Nebenbei zitieren sich Siena Root im thematischen Grundriff ganz frech selbst ("Coming Home"). Irre, "Reverberations" vereint endgültig alle Stärken der Band (allerdings fehlt Sanya), wuchert wieder mit tollen Tempowechseln, melodischen Motiven mit sehr hohem Wiedererkennungswert, einem einfach nur geilen Groove (Sam Riffer gibt alles!) und dem Schaffen einer Atmosphäre, die diese Musik so lebendig und emotional macht.
Zusätzlich wird noch ein 'Hurdy Gurdy' (gespielt von Tängman) eingesetzt und die vermeintliche Panflöte intoniert Anna Sandberg, was gegen Ende des fast zwölfminütigen Stückes zu eher orientalischen Klanggemälden führt. Ich komme mir fast vor wie bei einem Schlangenbeschwörer auf einem Bazar. Zum großen Finale bricht schließlich das blanke Chaos aus, alle scheinen wie wild und völlig unkoordiniert ihre Instrumente zu traktieren und nach einem knalligen Schlussakkord ist die Platte leider viel zu früh zu Ende und der Rezensent wie auf Droge.
Fazit:
Siena Root haben tatsächlich das geschafft, was nur sehr wenige schaffen. Sie haben einem großartigen Debütalbum ein noch großartigeres Zweitwerk folgen lassen, welches die Entwicklung der Band hervorragend dokumentiert und mit der neuen Sängerin und den genannten Gästen noch zusätzliche Facetten und Klangfarben bietet. Nachdem ich ja schon 9 RockTimes-Uhren für den fabelhaften Klang (funktioniert allerdings nur, wenn auch das Wiedergabe-Equipment stimmt) vergeben habe, lasse ich jetzt mit Freuden 9 ½ RockTimes-Uhren für die eigentliche Musik folgen. Ein erster Anwärter für die Platte des Jahres ist somit geboren!


Spielzeit: 51:02, Medium: CD, Nasoni Records, 2006
1:Good And Bad (7:56) 2:Nightstalker (4:35) 3:Blues 276 (3:45) 4:Bhairavi Dhun (9:11) 5:Crossing The Stratosphere (4:14) 6:There And Back Again (3:31) 7:Ridin' Slow (6:01) 8:Reverberations (11:47)
Olaf "Olli" Oetken, 06.04.2006