Hans Martin Stier möge es mir verzeihen, aber sein Gesicht ist mir auf deutschen TV-Bildschirmen bislang nicht begegnet. Meine tägliche Dosis Glotze befriedige ich zu 90% mit Phoenix. Für Hausmeister Krause und die SOKO Köln ist mir - ehrlich gesagt - die Zeit zu schade. Da ist es schon etwas peinlicher, dass ich Wim Wenders "Himmel über Berlin" nur vom Hörensagen kenne und zu meiner Schande eingestehen muss, dass Martin Stier von mir unbemerkt zu einem der gefragtesten Schauspieler Deutschlands aufgestiegen ist. Eines kann ich ihm allerdings versichern: Immer wenn im feucht-fröhlichen Hause Braun die Rede auf die 'gute, alte Zeit' kommt, krame ich eine Platte von 1980 aus: "Ausbruch" von der Törner Stier Crew. [Zur Hölle: Wann legt Sireena die endlich erstmals auf CD auf? - der Verf.]
Die Neue Deutsche Welle schwappte seinerzeit - immer hart an der Ekelgrenze - durch das friedensbewegte Land. Aber es gab echte Perlen, richtig gute Rockbands, die durch NDW an die Oberfläche gespült wurden. Die Törner Stier Crew war eine von ihnen. "Ausbruch" war musikalisch wie textlich von allerfeinsten alternativen Rauchwaren (ich glaubte stets, etwas schwarzen Afghanen herauszuhören) geprägt: abgefahren, witzig, intelligent arrangiert und mitten in den Bauch einschlagend. Einfach tolle Musiker mit einer irren Bühnenpräsenz, von denen Sänger Martin Stier in jeder Hinsicht herausragte. "Monster, Blut und kleine Mädchen" hieß das zweite Album und gleich danach stieg Stier ausgebrannt aus, um sich wieder der Sozialarbeit zu widmen. Die Band machte ohne ihn weiter und das durchaus gut. Aber was ist eine Crew ohne törnenden Stier? "Blam Blam" war gewohnt witzig, aber Stiers markant-männliche Stimme war einfach nicht zu ersetzen. So biss die TSC, wie so viele andere Bands dieser Zeit auch, gepflegt ins (Amsterdamer) Gras. Sämtliche Wiederbelebungsversuche starben bereits im Ansatz.
Und nun sind Stier mit einem Jahr Verspätung bei mir eingeschlagen und ich bin - gelinde gesagt - begeistert! 2008 brachte man unter dem Branding Kahle Mönche schon einmal ein Album heraus, auf dem sich einige Titel von "Reden!" wieder finden. So ist die aktuelle Single "Tanzen" damals der Titelsong der Kuttenträger gewesen. All diese Titel wurden allerdings umarrangiert. Es macht Sinn, sich mit dem neuen Bandnamen auf den Kopf der Band zu konzentrieren - Stier ist wunderbar prägnant und das dazu gehörende Logo, eine gehörnte Akustische, schlichtweg sensationell.
Es war bereits bei der Törner Stier Crew ein Markenkern, die Songs straff zu arrangieren. Alles auf "Reden!" bewegt sich im Rahmen von gerade mal gut zwei bis viereinhalb Minuten. Der Song steht quasi 'naggisch' ohne jeden Schnickschnack im Vordergrund. Gitarrist Lee C. Pinsky gibt dabei mächtig Gas und Originalmitglied Walter Stoever macht auf seinem Viersaiter einen mörderischen Alarm. Das klingt zeitweise so, als wolle man Rammstein zeigen, was 'ne richtige Harke ist. Charlie Steinbergs - ein weiteres Gründungsmitglied der Törner Stier Crew - quirlige Keyboardparts klingen etwas synthetisch, passen sich allerdings außerordentlich gut ins Soundkonzept ein. Tom Guenzels 'Fellbearbeitung' unterstützt Stoevers Bass schnörkellos-direkt.
Ich beschränke mich exemplarisch auf meine persönlichen Highlights dieser überaus kaufenswerten Scheibe. Allesamt schließen sie nahtlos an die TSC-Zeiten an. Beginnen wir mit "Ich will Dich küssen" (aber lass' den Fernseher an - hahaha!): Unglaublich, wie abwechslungsreich man drei Minuten gestalten kann. Eineinhalb Strophen auf knallenden Riffs, sensationelle Hooks im Refrain und ein 'frickeliges' Gitarrensolo - was will der saarländische Rocker eigentlich mehr? Die längste Nummer - "Übers Meer" - ist eine so genannte Power-Ballade, bei der ich an 'meinen' heiß geliebten Rio Reiser denken muss. "Gier" lässt die bereits angesprochenen Rammstein uralt aussehen, weil es textlich wesentlich anspruchsvoller ist. "Online macht süchtig" entwickelt seinen speziellen Reiz aus Steinbergs rhythmisch wabernder Strophenuntermalung und C. Pinskys harten Riffs unter den Refrains. Primus inter pares ist für mich "Es ist Winter". Dieser Song, nebenbei bemerkt übrigens ähnlich wie "Online..." aufgebaut, hat beachtliches Suchtpotenzial. Einzig das infantile "Stalker" fällt doch gewaltig ab.
Aber das ist der einzige Wermutstropfen auf "Reden!". Dieses Album macht einen gewaltigen Appetit auf ein Wiedersehen mit Stier, Stoever und Steinberg. Macht euch also endlich mal auf in den Südwesten der Republik! Und: Dann »möchte ich mit Dir reden«, lieber Martin Stier...
Line-up:
H. Martin Stier (Gesang)
Charlie Steinberg (Gesang, Tasten, Gitarre)
Lee C. Pinsky (Gesang, Gitarre)
Tom Guenzel (Schlagzeug)
Walter Stoever (Bass )
Tracklist |
01:Diesesmal (2:59)
02:Ich will Dich küssen (3:17)
03:Tanzen (3:26)
04:Übers Meer (4:30)
05:Gier (3:48)
06:Reden! (2:14)
07:Du tust uns weh (3:24)
08:Online macht süchtig (3:43)
09:Auf der Flucht (3:18)
10:Es ist Winter (3:41)
11:Alles über Dich (3:25)
12:Stalker (3:23)
13:Warum (4:15)
Bonus:
Tanzen (video)
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Externe Links:
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