"Dies ist das schwierige dritte Album. Damit gehen sie zu weit. Sie laufen Gefahr ihre Wurzeln zu verleugnen, und es kümmert sie nicht!"
Andy Tillison, Sänger, Songschreiber und Tastenvirtuose der schwedisch-britischen Progrock-Formation The Tangent, nimmt sich selbst auf die Schippe und bereitet den Hörer damit auch flachsend auf einige Veränderungen vor. Was dieses Werk anderthalb Jahre nach dem letzten Output "The World That We Drive Through" an Neuerungen zu bieten hat, dürfte den Liebhabern der Band allerdings durchaus munden.
Das multieuropäische Musikerkollektiv hat Personal verloren, aber dafür auch frische Kreativzellen dazu gewonnen. Vom ehemaligen Flower Kings-Mitgliedergerüst ist nun letztendlich Bassist Jonas Reingold übrig geblieben. Viele neue Pläne bzw. Projekte zwangen wohl Workaholic, Kreativkoordinator und geistige Progrock-Koryphäe Roine Stolt, die Mannschaft zu verlassen und gleichsam für eine frische Brise den Weg freizumachen
"Es war traurig ihn gehen zu sehen, auch Roine zu verlieren traf mich hart. Anderseits ist mir bewusst geworden, dass ich nicht nur Musiker, sondern selbst auch Fan bin." sagt Tillison.
Der neue Sechsaiter Krister Jonsson aus Reingolds Band Karmakanic bringt auf jeden Fall neue Schwerpunkte mit ein, ist erfrischend weniger verspielt, gleichsam minder dominant, kurzum passt sich instrumental geschmeidiger in das Kollektiv ein.
Komplettiert wird das neue Line-Up von Schlagzeuger Jaime Salazar, der bis zu "The-Rainmaker" bei den Blumenkönigen trommelte und Saxophonist Theo Travis ( David Sinclair, Porcupine Tree, David Allens Gong).
Unverrückbare Positionen besetzten nach wie vor Parallel Or 90 Degrees-Mastermind
Andy Tillison (Tasteninstrumente, Gesang), Sam Baine (Keyb, Gesang) und Guy Manning (Akustik-Gitarre, Mandoline, Gesang).
Bei dem neuen Studioerguss "A Place In The Queue" muss ich gleich vorwegnehmen, dass es beileibe kein einfaches Album geworden ist, aber für denjenigen, der gerne einmal tiefer hineinhört und experimentierfreudig ist, wird sich dieses Gesamtkunstwerk wie eine Schatztruhe öffnen.
"Ein Platz in der Warteschlange", so die etwaige Übersetzung, ist ein konzeptionell philosophisches Hörgemälde, das sich in seiner Lyrik mit humangesellschaftlichen
Thematiken der Gegenwart auseinander setzt. Wir Menschen sind alle Sklaven von
Werbung, Trends, Religionen und selbst auferlegten Dogmen, und haben deswegen
unseren Platz in der Warteschlange des Lebens inne.
Man möchte meinen, musikalisch hätte eine Umorientierung stattgefunden. Wenn man dabei das Zurücknehmen von Rockelementen annimmt, stimmt es unüberhörbar. Ich bis dato
würde es als Befreiung bzw. Regenerierung bezeichnen wollen, sich nun endlich von
Stolts allmächtigen Schatten gelöst zu haben.
Man muss das Hörwerk insgesamt betrachten bzw. konsumieren. Es fällt schwer einzelne
Tracks aus den Kontext zu reißen, obwohl seine Konstruktion von den beiden
Mammutkompositionen wie ein Gerüst getragen wird.
Die Kompositionen erscheinen vielschichtiger und abwechslungsreicher. In sich frei schwebende Harmonien sind ständig im Clinch mit improvisiert attackierenden Jazzpassagen, leichtfüßigen "Canterbury-Sound" und immer wieder kleinen Folk-Einsprengseln.
(Anm.d.V: Der sog. Canterbury-Sound erlebte seinen Ursprung Anfang der 70er, durch
kreative Musikanten aus der Gegend um die Provinz Canterbury. Für dieselben spielten
deutliche Jazzeinflüsse eine größere Rolle als bei den meisten zeitgenössischen britischen
Progressiv-Bands.)
Es erweckt geradezu den Eindruck, es sei der göttliche Funke in die Protagonisten gefahren, welche vom Glück beseelt ihre Instrumente jubilieren lassen.
In den einzelnen Tracks befinden sich keine egozentrisch überdehnten, dafür aber prägnante solistische Glanztaten, die allenfalls der gemeinsamen Grundstimmung untergeordnet sind. Die vielfältigsten Klangfarben fügen sich zu einem collageartigen Gemälde zusammen, Kollektivimprovisationen wechseln mit ausgedehnten, straff durcharrangierten Passagen. So betört uns eine introvertierte Kammermusik mit weit aufschwingenden Melodiebögen, überraschende musikalische Wendungen bzw. beeindruckende Virtuosität. Dies verstärkt den subjektiven Eindruck eines monumentalen Hörkinos ohne jegliche Längen.
Mit einer unglaublichen Präsenz überzeugt jeder Einzelne der Bandmitglieder als vollwertige, zum Großteil individuelle Solisten. Hierbei macht keine instrumentale bzw. stimmliche Brachialgewalt, sondern ausgefeilte Dynamik, gute Artikulation und ausgezeichnete Intonationen den Wert aus.
So übernimmt Tillison, nach Stolt's Weggang, den Grossteil der Vokalparts, wobei seine süffisante, nölende Stimme nicht gerade mit Variabilität und Kraft bestechen kann, aber der eine kompatible britische Nonchalance nicht abzusprechen ist.
Auch bedient er sich schöpferisch den ungezählten Klangmöglichkeiten seiner Moog-
Synthesizer oder Hammondorgel, dessen pastellös behändes Spiel auf den Tasten,
mit retardierenden und Up-Tempo Zwischengriffen angereichert, stets unaufdringlich der
allgegenwärtigen Rhythmik dienlich sind. Seine Dominanz am Moog, nebst runden Anschlag
gerät selbst in den schnelleren virtuosen Sätzen nie in Gefahr, sich in Selbstverliebtheit
zu verlieren.
Bassist Reingold zupft sein Instrument trocken -erdig, Jaime Salazar trommelt flexibel und mit percussiver Einfühlsamkeit, das repetitive E-Piano kann die expressiven Jazzelemente aufnehmen, unterstreicht die Stimmungen auf diesem Output, vor allem aber mit perlenden Single-Note-Linien und orgastischen Läufen.
Das elegante, lyrisch singende Spiel bzw. die Unisono-Parts von Theo Travis auf der Flöte, Klarinette und expressiv modifizierte Saxophonpassagen mit leicht überblasenen Phrasen, verdeutlicht noch einmal etwas mehr Spielfreude und Verspieltheit, als auf dem Vorgänger.
Ausgeklügelte und bestimmende Gitarrensoli sind auf dem vorliegenden Werk eher
weniger zu vernehmen bzw. sind schmückendes Beiwerk, überzeugen aber dramaturgisch
mit effektvoller Virtuosität. Der Klangkörper musiziert sehr konzentriert bzw. meistert
die enorme technische Herausforderung mit respektgebietender Brillanz und agiert
größtenteils homogen sowie klangintensiv.
Das Klangbild bleibt dabei stets voller Wärme und
verfällt nicht dem Pathos, welchen den symphonischen Partituren leicht widerfahren können.
Man könnte fast von 'analytischer Durchdringung prägnanter Intonationen' sprechen, wenn
dies nicht so ein trockener Begriff wäre.
Das auf stolze 20 Minuten bemessene Eröffnungsepos "In Earnest" ist ein Paradebeispiel für ein Feuerwerk an instrumentalen Variationen. Der samtige E-Piano Einstieg von sakraler Stimmung lässt rein zufällig partiell (oder nicht?) Zitate aus Genesis "Blood On The Rooftops" erkennen. Bestückt mit dem beseelten Gesang Tillisons, spielt es mit Intensitätssteigerungen und einen mehrfachen Wechsel des Metrums, bevor das Stück mit seinem klassisch verspielten Mittelteil fesselt.
Die Tasten-Intonationen paktieren mit einem Perkussions-Teppich, der quirlig groovt und immer schneller werdend, sich bei inbrünstiger Klangfülle entfaltet, treibend voranmarschiert, um schließlich wieder zurückgenommen das Grundthema aufgreifend, in das hymnische Finale geleitet.
Kurze aber prägnante Zwischentöne von der Sechssaitigen und der Klarinette setzen
meisterliche klassische Akzente innerhalb des breaklastigen Arrangements.
Zwischen den Linien nimmt sich das 'Orchester' weit zurück, so dass ein Gefühl des erneuten
Anlaufens entsteht, ohne dass die Gesamtlinie unterbrochen wird.
Man benötigt einige Hördurchgänge (gilt auch für das restliche Material) um über verschiedene
Längen hinweg das traumhaft sichere, sowie äußerst sensible, aufeinander eingehende
Spiel der Beteiligten zu erspüren und aufzunehmen.
Im anschließenden "Lost In London" überrascht die Formation mit einer magischen
Canterbury -Atmosphäre und anderseits rockigen Retro-Prog Sequenzen, in welchen
wunderbar versponnene Flötenintonationen à la Ian Anderson nebst modifiziert
anschwellender Hammondorgel für die nötigen Spannungsbögen sorgen.
Doch bei aller Differenz zwischen diesen beiden musikalischen Welten, entsteht dadurch
kaum ein Gefühl des Verlustes der Authentizität.
"DIY" ist dagegen ein verstecktes Kleinod auf diesem Album. Die Travis-Komposition ist zeitgenössischer Jazzrock, verspielt und atonal avantgardistisch, auf das Höchste komprimiert. Saxophonist Travis darf hier seinen Emotionen die Peitsche geben.
Ob nun noch das vom feinsten Yes-Geist ummantelte "GPS Culture", mit dessen hochemotionalen und saloppen komplexen Keyboardläufen, worin Gastgitarrist Dan Watts (Parallel Or 90 Degrees) ein Paradebeispiel an Eleganz bzw. Ästhetik postiert, oder die feine etwas entrückende Jazzrock Komposition "Follow Your Leaders", wie sie exemplarischen Genreurgesteine Colosseum während ihren seligen Zeiten reproduzierten: es bleibt dabei immer genügend Raum für ausgiebige Ausschmückungen.
Vom rhythmisch, harmonisch akzentuierten Bassspiel beflügelt, mit elegischen Gitarren-
Einlagen, kongenialen Synthesizer und Flöten Kaskaden durchwoben: das alles
weist auf eine Seelenverwandtschaft der Protagonisten hin, die traumhafte Interaktion erlauben. Auch wie sehr sich Tillison & Co. bei leichtfüßigen Rhythmen und
nostalgischen Melodien wohl fühlen.
Mit "The Sun In My Eyes" erlaubt sich die Band einen Totalausfall. Keine Ahnung welcher Belzebub Herrn Tillison da geritten hat. Höchstwahrscheinlich hatte derselbe gerade beim komponieren eine Santa Esmeralda Scheibe am laufen. Man stellt sich an dieser Stelle die Frage nach einer heimlichen Hommage an den 70er Disco-Pop oder einer schlichten Provokation, die jeden introvertierten Proggie wachrütteln möchte. Es wäre vielleicht besser nicht eingespielt worden.
Der abschließende Titeltrack ist mit 25 Minuten Laufzeit ein schwerer Brocken, aber auch ein resolutes Meisterstück bzw. ein würdiges Finale, derer eine kompositorische Steigerung kaum möglich sein sollte.
Sämtliche Tugenden bzw. Vorzüge der anspruchsvollen Musik, werden mit Fragmenten aus Jazz, Kunstrock, Ambiente, Bar-Swing, RetroProg und Blues angereichert bzw. verschmelzen zu einem berauschenden Gebräu - das komplettiert die musikalische Achterbahnfahrt von Gefühlen.
Das akustische Gitarren-Intro ist dabei das Salz in der 'Gemüsesuppe' bzw. bereitet den majestätischen Apptizer zum Hauptgang.
Anmutig erklingt das völlig losgelöste E-Piano, wechselt alsbald zum Synthesizer um sich in
abstrakten Klanggefilden zu tummeln, bis sich das Saxophon des Grundmotivs mit einem
leidenschaftliches Solo annimmt.
Die traumwandlerische Balance wird hierbei vom entsprechenden Rhythmusfundament gehalten, so dass die Herren Musiker ihre Experimentierfreude ausleben und stilistische Grenzen fröhlich ignorieren können.
Als Gegenpol zum atmosphärischen Gitarrensolo, beschert ein nettes Übergangsthema
Raum zum Durchatmen, bevor sich die angestaute Energie in einem Bade aus Jazzfunk
und Progrock als sensible Inszenierung entlädt, woraufhin die hinreißend angeschlagene Sechssaitige vom Vorarbeiter Tillison in Synthie-Schwällen erstickt wird.
Dieser Meisterwurf lebt vom Yin-Yang Prinzip, der ausgewogenen Balance von Komposition
und Improvisation, beeindruckt durch einen stetigen Fluss bzw. Ideenreichtum, der sich
erst nach mehrmaligem Hören erschließt.
Fürwahr ein berauschendes Teil Musikkultur, mit dem du mental ebenso in der Vergangenheit schwelgen, wie in die musikalisch kreative Zukunft reisen kannst!
Es wird sich sicherlich als schwieriges Unterfangen für die Beteiligten
erweisen nach solcher Herausforderung an die Sinne, eine weitere Steigerung folgen zu lassen.
Wer Lust auf einen musikalischen Liebesakt verspürt, woran die exorbitanten Talente
der Komponisten, aber auch die Einfühlsamkeit der Musiker gleichermaßen Anteil haben,
dem sei diese Scheibe wärmstens empfohlen.
Kommende Nachahmer des schwedisch-britischen Musikerkollektives werden
sich in der Warteschlange weit hinten anstellen müssen!
"A Place In The Queue" erscheint auch als Special Edition im Digipak, mit erweitertem Booklet und Bonus-CD. Diese beinhaltet sechs exklusive Tracks, die während der "Queue"-
Sessions entstanden, allerdings nicht in das Konzept des Albums passten.
Spielzeit: 79:00, Medium: CD, InsideOut, 2006
1:In Earnest 2:Lost In London 3:DIY Surgery 4:GPS Culture 5:Follow Your Leaders 6:The Sun In My Eyes 7:A Place In The Queue
Ingolf Schmock, 02.02.2006
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