The Tangent / Not As Good As The Book
Not As Good As The Book Gesamtspielzeit: 94:51
Medium: Doppel-CD
Label: InsideOut Music/SPV, 2008
Stil: Retro Prog


Review vom 06.03.2008


Ingolf Schmock
Die hier besprochene Musikerliaison namens The Tangent war ursprünglich mal als einmaliges Retortenprojekt angedacht. Nun überdauert es doch schon etliche Jahre, hat sich sozusagen mittlerweile zu einem gut funktionierenden und eigenständigen Apparat transformiert, und ist aus dem derzeit blühenden Prog Rock-Geschäft nicht mehr wegzudenken.
Die britisch-schwedische Kooperation hat knapp zwei Jahre benötigt um jetzt ihr bisher ausgereiftestes, zugleich auch eigenständigstes Album vorzulegen.
Mit seiner Band The Tangent stellt sich Mentor Andy Tillison Diskdrive (Parallel Or90 Degrees) der durchaus schwierigen Aufgabe, mit einer fluktuierenden Besetzung musikalisch, trotz häufiger Reminizensen an die siebziger Jahre, dennoch recht modern und auch zeitgeistorientiert zu klingen.
»Eine Gerade, welche einen Kreis nur an einer einzigen Stelle berührt bzw. tangiert«, so die Definition aus den Lehrbüchern, wird auf dem neuesten Output der Protagonisten sowohl kompositorisch als auch künstlerisch mit sehr viel Gespür umgesetzt.
Mit dieser bereits vierten Veröffentlichung, dem Doppelalbum "Not As Good As The Book", dürfte es jetzt mal an der Zeit sein, weg vom absoluten Insider-Status, in die Ruhmeshalle der progressiven Rockmusik einzuziehen und das auch zu manifestieren
Mit sehr viel Fingerspitzengefühl für Details und musikalischer Innovation gerät das Werk zur Odyssee durch die unterschiedlichen Stile und Klangströmungen. Es vermag den Zuhörer über mehr als neunzig Minuten in einen instrumentalen Malstrom zu ziehen und schafft das Kunststück, trotz seiner Vielfalt den roten Faden nicht aus den Auge zu verlieren.
Keyboarder/Sänger Andy Tillison dazu: »Wir mögen musikalisch ambitioniert und komplex klingen, aber normalerweise ist das Herz jedes einzelnen Stückes ein sehr simpler Song, von dem wir hoffen, dass die meisten Leute etwas damit anfangen können. Manchmal sind es Geschichten, manchmal Beobachtungen, manchmal sind sie traurig, ein anderes Mal lustig. Wir verzieren unsere Musik sowohl symphonisch als auch kontrapunktisch, verwenden dabei Jazz, bekannte Prog Rock-Methoden, beziehen uns häufig auf die Canterbury Bands und spicken die Songs mit Improvisationen. Aber dennoch sind sie vor allem und ausschließlich Songs.«
The Tangent präsentieren auch hier wieder eine musikalische Summe aus drei Jahrzehnten progressiver Rockmusik, mit erstklassiger Instrumentierung und einem verblüffenden Zusammenspiel, was angesichts des Teams nicht sonderlich verwundert.
Neben Mastermind Tillison Diskdrive, toben sich dabei sein alter Kumpel Multiinstrumentalist/Sänger Guy Manning, Schlagzeuger Jaime Salazar (Ex- Flower Kings), Saxophonist/Flötist Theo Travis (Soft Machine Legacy), Bassist Jonas Reingold und Neuzugang Jakko M. Jakszyk, dessen Reputation Gastarbeiten bei Level 42, Robert Fripp, Gavin Harrison ausmachen und der eigentlich hauptamtlich bei der 21st Century Schizoid Band angestellt ist, hier nun ordentlich aus.
Ihr durch moderne Arrangements angereicherter Prog Rock bedient sich aus der Aggressivität von Van Der Graaf Generator, nimmt dazu die virtuosen Tastenparts von Yes, ELP sowie anmutige Gilmour'sche Saitenzauberei nebst diversen Fragmenten aus frühen Genesis-Tagen, und verschmilzt selbiges neu zu einem Gebräu aus Bombast, Komplexität und einer Achterbahn von gefühlvollen Melodien.
Teil Eins dieses doppelten Wurfes, der den bedeutungsschwangeren Untertitel "A Crisis In Mid Life" trägt, kommt mit insgesamt sieben Songs, deren Spiellänge sich zwischen sechs und zehn Minuten bewegen.
Teil Zwei hingegen ist ein Fest für alle Liebhaber der etwas längeren Stücke, die mit doppelter Ladung à zweiundzwanzig Minuten einiges an kompositorischen Oeuvre zu bieten haben.
Insgesamt hat sich im musikalischen Grundduktus gegenüber den Vorgängeralben nicht allzu viel Gravierendes verändert, bleibt man im weitesten Sinne in seiner Tradition verwurzelt. Nur wirkt die Scheibe diesmal etwas lebendiger bzw. rockiger und eröffnet sich damit mehr Freiraum als auch Eingängigkeit.
Der Opener "A Crisis In Mid Life" ist ein graziles Mid-Tempo-Stück, das anfänglich nahezu dem Mainstream verbunden zu sein scheint, sich aber merklich instrumental steigert und Lust auf mehr verbreitet. Im Mittelteil besticht es mit einem prächtigen, wenn auch sehr kurzem Gitarrensolo, das für Nachhaltigkeit beim geneigten Konsumenten zu sorgen vermag.
Bei "Lost In London" demonstriert das Ensemble, insbesondere Flötist Travis, dass der Tull'sche Musikkosmos wohl zu ihren Steckenpferden gehört. Was hier vielleicht etwas sauer aufstößt, ist der etwas verschlafene Gesangsstil von Bandleader Tillison, der aber mit dem jazzigen Pianomittelteil dieser Schwäche etwas an Gewicht abnimmt. Die Rhythmussektion folgt ihm aufmerksam und unaufdringlich, wenn auch klanglich und artikulatorisch etwas zu undifferenziert. Ansonsten stehen hier die rockigen Elemente eindeutig im Vordergrund.
"The Ethernet" lebt anfangs von seiner simplen, ruhigen Struktur und zentriert die Aufmerksamkeit auf Gitarre und Tasteninstrumente. Dann beginnen die Protagonisten tonal einen kontinuierlichen Spannungsaufbau vorzunehmen und bemühen sich redlich, durch Anreicherung mit modernen Beats dem Song etwas Struktur bzw. Transparenz in das, zugegebenermaßen, komplexe Dickicht zu bringen. Immer mehr Elemente wie Chöre und Keyboardwaben fügen sich hinzu und lassen es mit einem stromlinienförmigen Gitarrensolo auf Neo Prog-Linie ausrichten, um dann mit dem abschließenden Saxofon-Solo Akzente zu setzen.
"Celebrity Puree" ist ein abgedrehtes, gesangfreies Jazzrockarrangement, sozusagen ein weiterer, hochkarätig besetzter, hyperaktiver Instrumental-Workshop, bei dem die Beteiligten ihr schlummerndes Potential vollständig erwecken können.
Beim nahtlos anschließenden Titelsong bedienen sich die Herren Musiker der Rezeptur, welche die Bedürfnisse eines Marillion/ Pink Floyd-Liebhabers doch nahezu befriedigen dürfte. Mit erschütternder Eindringlichkeit spielt uns Saitenzauberer Roine Stolt Flamenco-Akkorde auf der Akustischen, gibt ihnen unendlich viel Raum sich zu entfalten, um dann wieder im Anfangsthema zu entschwinden.
Bedrohlich und unheimlich erhebt sich "A Sale Of Two Souls", welches wohl ein eindeutiges Statement zu Van Der Graaf Generator und deren musikalische Seelenverwandtschaft offenbart. Travis' sonore Saxofonläufe setzten dabei rhythmisch sakrale Akzente zum Charakteristikum des expressiven Gesangs, welcher der existenzialistischen Vortragsweise eines Peter Hamill sehr nahe kommt. Außerdem gönnt man sich spielerische Feinheiten, indem man kleine melodische oder atonale Verzierungen mit einfügt.
Das abschließende "Bat Out Of Basildon" besitzt die Kratzbürstigkeit eines musikalischen Gestrüpps, das durchaus auf dem Dung Purple'scher Kompositionabfälle herangezüchtet sein könnte. Obwohl schon die Gitarrenarbeit von Herrn Stolt - sein flüssiges Legatospiel - stets gut herauszuhören ist, sozusagen exquisit aus den Boxen jagt, bewältigt doch die Tasten- und Rhythmussektion die Hauptarbeit.
Insgesamt ist bei allen sieben Kompositionen zu bemerken, dass jederzeit in allen Instrumentengruppen klar bzw. schlank, zugleich auch rhythmisch und schwungvoll musiziert wird, so dass es mit den Gesangslinien bzw. Chören zu einer einzigen Klangwelle zusammenwächst.
Im zweiten Teil von "Not As Good As The Book" präsentieren uns The Tangent eine kompositionstechnische Tour de Force ersten Ranges auf einem sehr hohen interpretatorischen Niveau.
Die im Zentrum stehenden zwei Longtracks, die mit Retro Prog-typischer Schwerelosigkeit scheinbar ziellos, aber bezaubernd durch märchenhafte Klangwelten treiben, verbinden sich mit verstohlenen Canterbury-Stimmungen, wie aus dem Nichts auftauchendem Floyd'schen Prog, samt groovender Rhythmusgruppe, Keyboard-Orgel, elegische Gitarrensoli und schmeichelndem Harmoniegesang. Besonders große Freude hat der Rezensent daran, wieder der Schlagzeugkunst vom Jaime Salazar zu lauschen und sich vom Feingefühl und der spielerischen Virtuosität eines Theo Travis fesseln zu lassen.
Das in vier Teile untergliederte "Four Egos, One War" benebelt den Zuhörer anfangs mit orientalischen Wohlklängen und dem zirpenden Gesang von Gastsängerin Julie King, die damit ins Reich von 1001 Nacht verführt.
Das Erwachen lässt nicht lange auf sich warten, wenn nach weiten Melodiebögen und schwebenden Synthiefiguren die hart arbeitende Rhythmuscrew hektisch das Zepter übernimmt. Die Ideenfülle der Komposition ist schon beeindruckend, die Beteiligten begehen dabei aber nicht den Fehler, auf Teufel komm raus halsbrecherisch zu frickeln, sondern verlieren trotz Komplexität das musikalische Fundament von Melodie und Grundtenor nicht aus den Augen.
Witzig auch die kleinen Funkyeinlagen, die den mit sehr viel Verve vorgetragenen, harmonisch komplizierten Passagen den nötigen Pepp verleihen.
Im Schlussteil wechselt der Duktus zu einem Ausbruch der Instrumentalisten, um dann wieder in die meditative Ruhe der Anfangsstrophe zurückzukehren.
Zu erwähnen wäre dazu noch, dass es sich eigentlich hierbei um ein nie veröffentlichtes Parallel Or 90Degrees-Stück handelt, welches man nun eigens dafür umarrangiert hat.
Das zweite überlange, "The Full Gamut", das gleichermaßen in neun Parts eingeteilt wird, birgt weniger Vitalität in sich, kann dafür aber mit seinen ausfüllenden Lyrics und den komplexen Instrumentalteilen die perfekte Kombination bzw. aparte klangliche Mischung schaffen.
Partiell werden hierbei hörbare Parallelen zu den späteren Pink Floyd gezogen, was besonders gesangstechnisch nicht zu leugnen ist. Unprätentiös, mit einem schlanken, etwas nüchternen Ton, präsentiert sich dieses symphonische Meisterstück, so dass es an einigen Stellen Gefahr läuft, im Schmalz und Pathos zu versinken, aber immer noch rechtzeitig die Kurve hinbekommt. Jedoch sind diese Fragmente stets von Progmustern modernerer Prägung, wie es Spock's Beard einst perfektionierten, verkleidet, die auch den Tastenparts sehr viel Raum geben.
Eines haben die beiden Epen jedenfalls gemeinsam, sie strotzen geradezu vor Variantenreichtum und kompositorischer Nonchalance, finden aber immer auf die musikalische Ideallinie zurück.
Das Ganze wirkt manchmal etwas überambitioniert, lässt sich aber, genau wie die gelegentlich gesanglichen Schwächen, durchaus verzeihen. Ich glaube, Andy Tillison Diskdrive und seine musikalischen Gesellen haben hiermit wohl ihr kultiviertestes Hörwerk abgeliefert und beschreiten damit den Erfolgspfad, progressive Rockmusik wieder für ein breites Hörerspektrum salonfähig zu machen.
Diese wirklich aufwendige Produktion bietet Retro Prog von seiner heute klangvollsten Seite, und ist somit ein würdiger Anwärter auf die Progveröffentlichung des Monats, wenn nicht sogar des Jahres. Deshalb gilt: Absolute Empfehlung.
"Not As Good As The Book" kommt als Doppel-CD daher, die auch als limitierte Special-Edition, inklusive einem Buch mit einer humorvollen Science Fiction-Story, geschrieben von Andy Tillison und Illustrationen des französischen Künstlers Antoine Ettori, erhältlich sein wird.
Tracklist
CD 1:
01:A Crisis In Mid Life (7:12)
02:Lost In London (Twenty Five Years Later) (7:32)
03:The Ethernet (10:13)
04:Celebrity Puree (3:43)
05: (The Future Was) Not As Good As The Book (8:54)
06:A Sale Of Two Souls (7:16)
07:Bat Out Of Basildon (5:54)
CD 2:
01:Four Egos, One War (Ours; Theirs; His; Mine) (21:14)
02:The Full Gamut (The D599; Goteborg; Last Tango; Studio Tan; Not A Drill; Southend; The A1 North Of Paris; Four Last Days; The D599 And The A61) (22:42)
Externe Links: