Als wir in unserer virtuellen Redaktion über die Rubrik "Klassiker" philosophierten, nagte in mir sofort die Frage: Welche Scheiben kann man darunter überhaupt vorstellen, ohne das im Forum sofort ein taifunähnlicher Proteststurm losbricht? (Was natürlich nicht wirklich schlimm wäre, denn dann ist Leben in der binären Hütte.)
Jeder hat so seine eigenen Scheiben, die er immer schon am liebsten mochte. Aber sind das deswegen schon Klassiker? Andererseits hat auch jeder direkt vier oder fünf Scheiben parat, die unbestreitbar Klassiker sind und die werden bei der RockTimes sicher auch als solche behandelt werden. Was ist aber, wenn von einer der offensichtlichen "großen" Bands nicht unbedingt das von jedem erwartete obligatorische klassische Album als Klassiker bequatscht wird? Sondern unerwarteter Weise ein anderes? Wäre das statthaft, oder würde es die Rubrik ad absurdum führen? Wie auch immer, als ich über Klassiker-Platten nachdachte, fiel mir direkt "Thunder and Lightning" ein.
Jahrelang wählte ich es im Rock-Hard Poll in der Sparte "Album des Jahres". Ein alleiniges, allgemein akzeptiertes Auswählkriterium für einen Klassiker ist das sicher nicht. Den Ausschlag gab aber die plötzliche Diskussion über diese Platte in der John Sykes Yahoo-Group. 21 Jahre nach ihrem Erscheinen sorgt sie scheinbar immer noch für Gesprächsstoff. Und das zurecht!
Gerüchte besagen, dass für Lizzy der Hauptgrund dieses Album zu machen, ein monetärer gewesen sei. Über die Zeit hatten sich immense Schulden angesammelt, die mit den Einnahmen beglichen werden sollten. Das Vorgängeralbum "Renegade" hatte sich nicht so toll verkauft. Einige Insider vermuteten, dass der Grund dafür bei Phil Lynott's Songauswahl für dieses Album lag. Angeblich hielt er besseres Material für ein weiteres Soloalbum zurück. Wie auch immer, bei "Thunder and Lightning" war das sicher kein Problem mehr. Im Gegenteil, Lynott zog noch einmal das ganze Register seines Könnens.
Auch in der Band hatte es Veränderungen gegeben. Über den Kontakt mit Produzenten Chris Tsangarides war John Sykes zu Thin Lizzy gestoßen. Und der brachte gehörig frechen Wind in die Truppe. Keine Frage, Sykes war aufgrund seiner NWOBHM-Roots eher Metal- als Rockgitarrist und seine Art des Spielens prägt "Thunder and Lightning" ungemein. Wieder kamen Lizzy mit vor Kraft strotzenden, treibenden Songs daher, von denen jeder das gewisse Etwas hat. Wie es schien, sollte "Thunder and Lightning" für Thin Lizzy in den 80'er Jahre die Weichen stellen. Aber leider sollte es dazu nicht mehr kommen.
Der Titeltrack ist wirklich ein Gewitter. Ein Up-Tempo Kracher mit gigantischer Gitarrenarbeit. So etwas hatte man bei Lizzy noch nicht gehört. Bei diesem Stück hört man förmlich, wie Sykes die Band motivierte, sie herausforderte. Wann war Scott Gorham das Letzte mal in einer solch überzeugenden Form zu hören gewesen? Ein noch heißeres Feuerwerk als beim Titeltrack brennen Sykes und Gorham bei "Baby Please Don't Go" ab. So klingen nur Gitarristen in Ekstase!
Phil Lynott brachte Gesangsmelodien zustande, die seiner Stimme wieder genau das verliehen, was die Fans so sehr an ihr schätzen: Die Leidenschaft.
"The Holy War" und "Someday She Is Going To Hit Back" sind nur zwei Beispiele dafür.
Erwähnt werden muss natürlich auch "Cold Sweat", das mittlerweile auf jeder ernstzunehmenden Tribute-CD vertreten sein muss. (Es wird meistens voll Enthusiasmus von irgendwelchen Metal-Bands aufs Band geholzt.) Lynott sagte einmal, er und Sykes hätten zusammen genau 10 Minuten gebraucht, dieses Ding zu schreiben. So fulminant wie die Scheibe beginnt, endet sie auch. Mit "Heart Attack" kommt noch einmal Power in die Bude - ohne Kompromisse, immer auf die 12!
Eine besondere Stellung nimmt "The Sun Goes Down" ein. Das einzige langsame Stück wird oft als das beste des Albums bezeichnet.
Für mich hat es aber eine andere Bedeutung. Am 07.01.1986 hörte ich die Metal-Sendung "Scream" auf WDR 2. Volkmar Kramarz spielte zu Ehren Phil Lynotts "The Sun Goes Down", nachdem er von dessen Tod berichtet hatte. Dieser Moment wird mir unvergesslich bleiben.
"Thunder and Lightning" wäre entscheidend für Lizzy's weitere Karriere gewesen, wenn sich die Band nicht noch 1983 aufgelöst hätte. Jahre später wurden dermaßen frische Alben älterer Bands gerne mit Judas Priest's "Painkiller" verglichen und in eine Kiste gesteckt. "Thunder and Lightning" erschien 7 Jahre früher.
Spielzeit: 40:39, Medium: CD, 1983
1: Thunder And Lightning 2: This Is The One 3: The Sun Goes Down 4: The Holy War 5: Cold Sweat 6:Someday She Is Going To Hit Back 7: Baby Please Don't Go 8: Bad Habits 9: Heart Attack
Olli "Wahn" Wirtz, 31.10.2004
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