Ist es ein neuer Meilenstein in der bewegten Geschichte des avantgardistischen, experimentellen Rocks? Oder ist es der Soundtrack zum EEG eines komplett Wahnsinnigen?
Demonstrieren die Protagonisten ihre Virtuosität auf den Instrumenten und ihre Kreativität beim arrangieren? Oder waren etwa Übergeschnappte am Werk, die bloß ein Ventil für die in der Kindheit erlebten Schmähungen gesucht haben?
Diese Fragen kann der Musikfan nur ergründen, wenn er in die Welt von Tuner eintaucht, wenn er sich dem "Totem" hingibt, wenn er zuhört. Leichter wird es ihm fallen, wenn ihm die permanente Anbiederei so vieler Bands an den Mainstream, auch im eigenen Genre, zuwiderläuft. Wenn er offen ist für Klangfarben und Spielideen jenseits der 'Fender Stratocaster' und der 'Gibson Les Paul'.
Ungewohnt klingt das Debütalbum der Hauptdarsteller Pat Mastelotto und Markus Reuter garantiert. Kein Wunder wohl, wenn sich der Schlagzeuger von King Crimson mit einem Touch Guitar Spieler zusammentut. Auf Gesangslinien haben sie ebenso verzichtet wie auf Soloeinlagen. Dafür experimentiere sie mit Polyrhythmen, die manchmal an Herzstolpern erinnern, mit Samples, mit plakativen und beunruhigenden Spracheinlagen und mit tollem Drumming. Dazu gesellen sich synthetisch generierte Klangkurven, deren Ursprünge ganz tief in den kalten Soundgeneratoren binärer Recheneinheiten verwurzelt sind. Fast schon störend wirken die Sprachsequenzen. Zurecht wird im Booklet in der Hauptsache von Voice gesprochen und nicht von Vocals. Manchmal verfremdet, manchmal klar, versetzten sie den Zuhörer in die Rolle des auditiven Voyeurs. Ohne Möglichkeit der Einflussnahme wird er Zeuge von Durchsagen, von Dialogen und von Monologen. Ohne diese Facetten hätte die Musik einen anderen Charakter. Trotz aller Sounds, Wechsel und Experimente wäre sie bei weitem nicht so beunruhigend. Die menschliche Stimme entfaltet sich bei Tuner als kalter Hauch nach einem erschreckenden Traum. Bei "The Morning Tide Washes Away" sorgt eine Künstlerin namens Sirenee für Verwirrung, die zwischen Aufatmen und Befremdung oszilliert.
Satte und wuchtige Drums geben dem Zuhörer in den Arrangements den nötige Halt. Sie erweisen sich als Anker, als Ruhepunkt und als Baryzentrum. Pat Mastelotto trommelt genau auf den Punkt. Er gibt den Songs den Drive und die Richtung, während sich die anderen Instrumente in die verschiedensten Ebenen des Hörbaren, des Bewussten und des Imaginären ausbreiten. Als Beispiel dafür sei "Up, Down, Forward and Return" genannt.
Der puristische Rock 'n' Roller zuckt beim Wort Samples angewidert zurück. Wenn sie allerdings effektvoll eingebettet sind und nicht zu ihrem Selbstzweck verwendet werden, können sie durchaus eine Bereicherung sein. Mastelotto und Reuter importieren über Samples Beiträge von Renee Steiger, Adam Jones, Michael Peters, Dennis Chambers, Trey Gun und Robert Fripp in ihre Musik.
Tuner wollen nicht zeigen, was mit moderner Technik so alles geht, sondern wie Musik damit bereichert werden kann. Sie haben den Mut zu disharmonischen Klängen, zu vertrackter Rhythmik und zu verstörenden Arrangements. Sie beweisen, dass Musik eine psychogene Komponente enthält.
7 RockTimes-Uhren für "Totem".
Medium: Cd, Spielzeit: 57:53, Unsung Records, 2005
1:Flinch 2:Up, Down, Forward And Return 3:Mouth Piece 4:Totem 5:A Test Of Faith 6:The Morning Tide Washes Away 7:Hands 8:Better Take Your Head Off 9:Kiss The Earth 10:Dexter Ward
Olli "Wahn" Wirtz, 14.11.2005
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