Was tut der durchschnittliche Rockstar, wenn er in ein Alter kommt, in dem Otto Normalverbraucher beginnt, sich ernsthaft mit den Themen 'Rente' und 'Lebensabend' auseinanderzusetzen? Für gewöhnlich wird er die langjährigen Fans mit der x-ten "Best-Of"-Compilation beglücken, selbstverständlich mit einem bislang unveröffentlichten oder neu eingespielten Titel versehen, nach dem die treue Anhängerschaft lechzt. Oder aber er beginnt eine längere Serie von Abschiedstourneen, um alle Jünger zum 'garantiert letzten Mal' hinter dem Ofen hervorzulocken. Oder aber er fängt an durch die Oldieshows in der Glitzerwelt der Privatsender zu tingeln. Es gibt aber auch genügend Gegenbeispiele, dass das nicht so laufen muss: Gereifte Künstlerpersönlichkeiten, die ein wenig sind wie guter Wein - je älter, desto besser. Paul Vincent gehört eindeutig zu letzterer Kategorie, wie sein aktuelles Werk "L.O.V.E." eindrucksvoll beweist.
Aber halt - ist der deutsche Gitarrenaltmeister überhaupt ein Rockstar? Befragt man den bereits zitierten Otto Normalverbraucher, wird es garantiert des Öfteren Kopfschütteln geben: »Paul Vincent? Nie gehört!«
Das ist allerdings ein Trugschluss, denn gehört hat wohl nahezu jeder und jede, der/die in den letzten 45 Jahren Radio und Fernsehen eingeschaltet hat, den Mann mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit. Das liegt ganz einfach daran, dass Vincent seine Gitarrenkünste schon immer auch als Studio- und Tourbandmusiker für Kollegen nahezu aller Genres zur Verfügung stellte. Die Liste der Künstler, mit denen er zusammenarbeitete, liest sich wie ein 'Who's who In Music', nicht nur 'In Rock'. Picken wir doch nur mal ein paar illustre Namen heraus: Sting, Meat Loaf, Eric Burdon, Udo Lindenberg, Klaus Doldinger, Mireille Mathieu, Michael Holm, Peter Alexander, Eberhardt Schoener und noch viele mehr. Für Paul Vincent selbst war das Highlight solcher Kollaborationen die Mitwirkung auf Freddie Mercurys einzigem Solo-Oeuvre "Mr. Bad Guy". Zudem war er die musikalische Triebfeder hinter der schwäbischen Wolle Kriwanek Band, deren Erbe er nach Kriwaneks Tod im Jahre 2003 mit der eigenen Band Vincent Rocks pflegt. Darüber hinaus komponierte Paul Vincent unzählige Soundtracks für Film und Fernsehen. Wer in Deutschland mit halbwegs offenen Ohren unterwegs ist, kommt schlichtweg nicht an dem Ausnahmemusiker vorbei. Auch, wenn sein Name nur den echten Fans wirklich geläufig ist, kann man ihn doch in gewisser Weise als Star bezeichnen - als versteckten Star vielleicht.
Als er nun im Alter von 65 Jahrren eine 4-CD-Box ankündigte, ging ich selbst den oben angeführten Vorurteilen gegenüber jenen Musikanten auf den Leim, deren Motto lautet: »Too old to Rock'n'Roll, too young to die«. Ich erwartete einen Greatest-Hits-Sampler oder eine Wiederveröffentlichung à la 'Original Album Classics'. Weit gefehlt: Vincent legt mit "L.O.V.E." ein vollkommen neues Monumentalepos mit sage und schreibe 71 frisch komponierten und fast im Alleingang eingespielten Songs vor. Das ist schon mal ein ganz schönes Brett. Ganz nebenbei folgt der flotte Vierer noch einem Konzept. Richtig geraten: Es geht um die Liebe.
»Was auch sonst?« mag der ein oder andere Spötter aufseufzen, aber man sollte das Werk wirklich erst nach dem kompletten Hören beurteilen. Wer beim Schlagwort 'Liebe' sofort an Herz, Schmerz und dies und das denkt, wird mehr als nur positiv überrascht. Vincent nähert sich der Thematik aus vielen verschiedenen Perspektiven, auch immer wieder fernab von der geschlechtlichen oder partnerschaftlichen Schiene. Darüber hinaus weist jede einzelne der vier Scheiben noch ihr eigenes Konzept auf und ist in einer jeweilig eigenständigen Stilistik gehalten. Klingt verwirrend? Ist es aber zumindest beim Anhören ganz und gar nicht.
CD Nummer 1 steht unter der Überschrift "Rock". Musikalisch ist damit die Richtung vorgegeben: geradlinige, groovende Songs mit knackiger Gitarrenarbeit. Die Soli sind allesamt dynamisch, treibend und doch gefühlvoll. Wer mag, kann ja nach Vorbildern suchen - dass es hier mal claptönt und dort mal knopflert, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Paul Vincents Spiel genügend eigenes Profil aufweist, um neben solchen Kollegen gut aufgestellt zu sein. Und natürlich hat auch ein Paul Vincent die Klassiker und einflussreichen Größen der Szene in sich aufgesogen, ihre Ausdrucksfähigkeit übernommen und weiterentwickelt. Vom vorwärtspreschenden Rhythm'n'Blues bis zu Ohrwürmern mit Stadionrock-Qualitäten reicht die Bandbreite dieses ersten Silberlings. Schade nur, dass der Opener "Universal Love" etwas banal daher kommt. Nicht, dass der Song an sich schlecht wäre, nur als Auftakt für ein solches Riesenepos wirkt die leicht daherplätschernde Melodie doch etwas belanglos. Doch schon mit der zweiten Nummer geht's dann so richtig zur Sache und mit "When Was The Last Time", für mich persönlich das schönste Stück der Eröffnungscheiblette, hat Paul Vincent endgültig zu seiner gewohnten Form gefunden. Auch textlich zeigt der Song, wie vielschichtig hier an das nur vordergründig ausgelutscht erscheinende Thema 'Liebe' herangegangen wird. »When was the last time you did something for the first time?« lautet der Refrain. Und, genau betrachtet, ist das eine der entscheidenden Fragen, wenn es um die Liebe zum Leben an und für sich geht. Leben heißt Veränderung, immer wieder Neues erkunden und ausprobieren - Stillstand ist der Tod. So ist die herausgesungene Frage letztlich ein verklausulierter Aufruf: »Liebe das Leben!«
In seiner differenzierten Betrachtung des Emotionsphänomens "L.O.V.E." darf natürlich auch die Erfahrung nicht fehlen, dass wir es hier auch mit einer höchst zerbrechlichen Gefühlswallung zu tun haben: "Gone To Pieces" fetzt uns einen solchen Scherbenhaufen gitarristisch brillant um die Ohren.
Die zweite CD des Sets gibt sich sonniger, beschaulicher und zumeist locker-flockig. "Pop" lautet das Motto, das über allem schwebt. Vincents Vorstellung davon hat jedoch nichts mit süßlichem Bubblegumflair oder drögem Schmalztriefen zu tun. Seine Popballaden schöpfen ihre Schönheit in flirrenden Westcoast-Harmonien, akustischen Gitarren und mehrstimmigem Satzgesang. Ein Hauch von Eagles oder Crosby, Stills & Nash weht durch diese Aufnahmen. In folkigem Timbre erzählt Vincent bewegende Liebesgeschichten, etwas konkreter als die oft allgemein gehaltenen Songs des ersten Albums. Schicksalhafte Begegnungen, die Magie des Moments und beeindruckende Frauen - das ist der Stoff, aus dem "Pop" gestrickt ist. Auch hier ist das Konzept kongenial umgesetzt, die Scheibe hat eine durchgängige, dichte Atmosphäre. Die Grundstimmung wird im zweiten Song gleich festgemacht: "Halleluja! Trouble's Over". Vincent beherrscht die Ausdrucksmöglichkeiten der Westernklampfe ebenso beeindruckend wie jene von elektrisierten Brettern und beweist, dass Americana auch problemlos in good old Germany produziert werden können.
Im Kontrast dazu erinnert der Sound des dritten Teils von "L.O.V.E." eher an den Brit-Pop der Swingin' Sixties und frühen Siebziger. In Sound und Songwriting zelebriert Paul Vincent hier seine ganz persönliche Liebe zu den klassischen Bands von der Insel, allen voran der Fab Four. Man hat ein wenig das Gefühl, dass der Komponist und Interpret hier sein ganz persönliches "Sgt. Pepper's" schaffen wollte. Sogar Vincents Gesangsstimme schaltet immer wieder in den McCartney -Modus und knödelt in bester Beatles-Manier daher. Leider reicht seine Stimme jedoch nicht so ganz an die seines unsterblichen Namensvetters heran und das Match McCartney ./. Vincent endet eindeutig mit "Fifteen-L.O.V.E.". Trotzdem überzeugen die Songs auf ganzer Linie und dank einer gewissen augenzwinkernden Attitüde gelingt die Hommage. Sie verkommt in keiner einzigen Sekunde zu einer unfreiwilligen Parodie. Betitelt ist die Platte mit "Ballads, Blues And Stuff". Das deutet schon an, dass die Grundstimmung insgesamt etwas melancholischer daherkommt und einen gelungenen Kontrast zu der Aufbruchsstimmung des zweiten Silberlings bietet.
Aller guten Dinge sind im Falle von "L.O.V.E." jedoch nicht drei, sondern eben vier. Nach drei derart gelungenen Akten fragt man sich, was wohl vor dem Schlussvorhang noch zu erwarten ist. Ich gestehe - ich hätte völlig falsch geraten. Nach dem erdigen Rock und Pop der vorherigen Scheiben hätte ich einen Ausflug in sphärische Space Music erwartet, wie Vincent sie zu Beginn seiner Solokarriere mit "Sternreiter" absolviert hatte. Gut - weiter könnte man nicht daneben liegen. Teil Vier dieses Sets ist betitelt "Golden Radio Days" und huldigt einer Zeit, da das Mainstreamradio noch nicht gaga war und das Video den Radio Star noch nicht gekillt hatte. Paul Vincent zelebriert hier jene Klänge, die zur Zeit seiner Eltern populär waren. Musikzeitschriften gab es allerhöchstens zu klassischen Werken, das Internet war noch Science Fiction und wer sich über die neueste Musik informieren wollte, hatte nur ein wirklich ernst zu nehmendes Medium zur Verfügung: das Radio. Wir erinnern uns: Die Schellackplatte war erst vor Kurzem aus der Mode gekommen, die Vinylsingles eroberten den Markt und Longplayer sollten ihren Siegeszug erst in den Sixties antreten. Wer also möglichst viel unterschiedliche Musik hören wollte, musste an einem Empfängermonstrum von Walton'schen Ausmaßen drehen, bis sich zwischen atmosphärischem Rauschen und Kratzen doch tatsächlich ab und an Musik herausschälte. Das Entdecken neuer Sender war ein Abenteuer und HiFi noch nicht mal eine Zukunftsvision. Es war die Zeit von Pat Boone, Edith Piaf, Gene Vincent und vielen anderen, die unsere Mütter dahinschmachten ließen.
Folgerichtig inszeniert Paul Vincent diese abschließende CD als Radioshow aus einer längst vergangenen Zeit. Er trifft den Ton jener Tage verblüffend gut und das Fehlen des Rauschens der Radiowellen verwundert beim Zuhören beinahe schon. Mag sein, dass der ein oder andere Rocker mit diesen Songs nichts anzufangen weiß, aber letztlich wurde gerade in solchen Schlagerproduktionen der Grundstein für späteren Pop gelegt. Selbst die Frühwerke eines Elvis zehren noch von solchen Songstrukturen und -inhalten. Neben britischem und amerikanischem Flair war natürlich gerade Frankreich en vogue zur Zeit, als die Generation unserer Eltern die Stationsknöpfe justierten. Und gerade die Reminiszenzen an den frankophilen Pop der 50er Jahre gelingen Paul Vincent außergewöhnlich gut. Das Akkordeon lässt in wiegender Musette-Manier die Herzen nicht nur der älteren Generation höher schlagen und beim "Outro" schwelgen die Geigen im Schmalztiegel. Auch hier hört man: Das ist keine Parodie, sondern eine Herzensbekundung. Und gerade, dass Vincent hier die sicheren Gefilde seiner Rockerreputation verlässt, macht "L.O.V.E." auf außergewöhnliche Weise sympathisch und glaubwürdig. Dem Künstler geht's beileibe nicht um fixes Absahnen - er legt vielmehr eine Verbeugung vor seinen Wurzeln hin. Hier zelebriert ein wahrer Ausnahmekünstler jene Klänge, die ihn zu dem machten, der er nun mal ist. Mir hat gerade die gewollt old-fashioned gehaltene Radiosendung besonderen Spaß gemacht.
Was kann man abschließend über solch ein monumentales Album schreiben? In jedem Fall handelt es sich um ein sehr sympathisches und vielschichtiges Stück Musik. Ob man gleich die Vokabel 'Meisterwerk' ins Rennen bringen muss, sei mal dahingestellt, aber "L.O.V.E." ist definitiv ein sehr intensives Opus, das man immer wieder gerne anhören wird, durchaus auch komplett. Sollte also noch jemand überlegen, welches Musikschmankerl er sich für die nächste Zeit zulegen möchte, kann ich ihm nur raten: »All you need is L.O.V.E.!«
Tracklist |
CD 1 (Rock):
01:Universal Love
02:Peace On Earth
03:When Was The Last Time
04:4 Rainmakers
05:Love's A Thing That Money Can't Buy
06:Gone To Pieces
07:Can't Hide The Gypsy
08:One Man's Trash
09:Keep On Running
10:Lightning Never Strikes
11:All I Want Is Your Money
12:Barking At The Wrong Tree
13:If You Wanna Be With Me
14:Is This Love?
15:Sweet Lil' Angel
16:The Magic Of The Moment
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CD 2 (Pop):
01:Shaftesbury Avenue
02:Hallelujah! Trouble's Over
03:Something To Believe It
04:Oh No, Not My Sweet Baby
05:Heather, The Weather Girl
06:Secret Rendezvous
07:And The World Keep Turning
08:Here We Go Again
09:Isabella, Where Did Our Love Go?
10:I Wanna Be With You
11:She's Not The One For You
12:Up And Down
13:She's My Pride And Joy
14:My Fair-Weather Friend
15:You're Not True
16:Action Speaks Louder Than Words
17:You've Got A Golden Heart
18:Call It What You Want
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CD 3 (Ballads, Blues & Stuff):
01:Back On The Road Of Life
02:Spread Your Wings
03:Dead And Gone
04:Have A Little Faith In Me
05:Ain't It So?
06:Not In My Wildest Dreams
07:Here I Am Crying
08:Goodbye, Old Windy City
09:Count On Me
10:I Can't Sleep
11:The World We Live In
12:Daydreamin'
13:Run To Me
14:You Are So Far Away
15:What If I Said
16:You Gave Me A New Life
17:Too Bad
18:Life Will Go On
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CD 4 (Golden Radio Days):
01:At The Juke Joint
02:Intro - Facing The Music 1
03:There's A Tiger Inside
04:Come On, Let's Tango
05:So What Do You Say?
06:Eventually
07:Rich With No Regrets
08:Interlude - Facing The Music 2
09:Little Italy
10:Sing Cantare
11:Sweet Anabelle
12:Just A Fool In Love
13:Interlude - Radio Bnc
14:Fabulous Tea From Britain
15:We Do As We Please
16:Sadie Maybe
17:Moulin Rouge
18:French Knickers & Outro
19:You Are The One
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