»Wo bitte geht's denn hier zur Parkbühne?« - »Hier lang! Immer links halten!« - »Ah, ja. Und wie weit ca.?« - »10 Min., dann sind 'se da!«
Zehn Minuten! Ich renne im Dauerlauf... Schon 10 nach 8. Mist, so spät! Nach 5 min. und gefühlten 3000 m schnaube ich: Toll, na klasse, super Parkplatz!... Da!... Noch einer! Und ich? - Steh' fast an der Uni, so gut wie im Stadtzentrum von Leipzig also. Doch hier war ich nicht der einzige Feigling gewesen. Gotha, Schwerin, Berlin.. haben auch den romantischen Spaziergang vom City Center durch den schön gelegenen, weitläufigen Clara-Zetkin-Park hinter sich... und werden ihn ein zweites Mal genießen, nachher auf dem Rückweg. Schlendernden Schrittes, im Gegensatz zu mir, die ich inzwischen mit sportlicher Routiniertheit Atmung an Laufrhythmus anpasse, als plötzlich von naher Entfernung, immer deutlicher werdend drei sehr berühmte Worte, überirdisch intoniert in den lauen letzten Juniabend des Jahres dringen:
"Dance, Dance, Dance!"... so unwirklich... wie eins dieser saisonalen Volksfeste mit der typischen tanzvolkstümlichen Coverband, die zu vorgerückter Stunde treffsicher eine Stimmungsgranate nach der anderen in die ab dem fünften Bier locker federnden Swingbeine schießt. Aber diese Truppe hier muss verdammt gut sein und spielt dermaßen stilecht, dass die echten Beach Boys aufhorchen würden! In sichtbarer Nähe materialisiert sich nach und nach die steinerne Quelle dieser unglaublich merkwürdigen Erscheinung. Mittlerweile gekonnt überspringe ich die Pfützen des letzten Sommergewitters, als die 'Band' zum nächsten verführerischen Teenage-Heartmelter ansetzt, vernehmbar in den wiederum berühmten folgenden Worten: "...Then I Kissed Her"...
Um mich herum sehe ich Menschenfamilien sitzen, lauschend, lächelnd. Das ganze Areal rund um den geheimnisvollen, verdeckten Ort des Geschehens ist bevölkert. Gut verdeckt scheint auch mein unmittelbares Ziel - ein Kassenhäuschen. Ah, da ist es! Das wird wohl 'ne Luftnummer, so wie hier alles grinst und mich verwundert mitleidig ansieht. Aus Zeitgründen beschränke ich mich auf's Wesentliche und hechle der jungen Einheimischen hinter der Glasscheibe ein unkonventionelles »Gibs' noch Karten?« entgegen. »Aber gloar!« verselbstständlicht sie mir in sächsischer Landessprache, während ich nochmals ungläubig in die Massen hinter mir im Park schaue.
40 Euro, ein mutmaßlicher Halbmarathon, 300 km Autobahn vorweg und 20 Min. später als acht, erblicke ich die kalifornische Sonne im goldgelb leuchtenden Poloshirt von Brian Wilson, der hier leibhaftig und offenkundig mit einem fantastischen Beach Boys-Tribute-Orchester, formiert aus elf Musikern - allesamt vokalistisch vertreten! - erschienen ist, um den Harmoniestimmenhimmel auf dieses schöne Fleckchen Erde zu holen. In Nebengewerken agiert die komplette Fußballmannschaft - The Wondermints genannt - herausragend als bombastische Rhythmsection, universelle, teuflische Tastentänzer-Truppe sowie krönend defilierende Bläser-Fraktion. Brian Wilson steht ihnen allen vor, blind vertrauend den Rücken zugewandt, dirigiert er seine außerirdischen, zeitlosen Kompositionen.
Solide singt der 'Mozart der Rockmusik' mit einst glockenklarer Falsett-Stimme mittlere Passagen, die hohen überlässt er Jeffrey Foskett, einem der Saitenspezialisten im Dreamteam. "When I Grow Up", "I Get Around" und das himmlische, anbetungswürdige "Sloop John B" schweben in die perfekte sommerabendliche Atmosphäre. Eigentlich unfassbar, er ist es tatsächlich. Auf einem Hochstuhl halbsitzend hinter einem der fünf verschiedenen im Einsatz befindlichen Keyboards, zum Greifen nahe sieht man ihn vor der unbegreiflichen Kulisse von so wenigen, vielleicht 300 glückserfüllten Surf Jüngern fast durchweg älteren Semesters. Der Colani unter den Klangdesignern, ein Traumkonstrukteur für den kein noch so überstrapazierter jemals verwendeter Superlativ deplatziert scheint.
Doch ich bin selbst hingerissen, singe die Gassenhauer Strophe für Strophe mit, Liedgut, das auch heute noch jedes 9-jährige Kind pfeifen kann - "Surfer Girl", "Wouldn't It Be Nice" und natürlich "Cal Girls", wie es lässig auf einer der am Boden liegenden Setlists geschrieben steht. Einige Songs kündigt der Meister in jeweils knappen Worten an. Ein Lächeln hier und da ins überschaubare Halbrund schnappt sie sich gierig von der Bühne weg, die kleine Schar freudig strahlender Sunset Stripper, West Coast-Fetischisten und sonnenhungriger Wahl-Kalifornier dieses Abends. Ein konzertantes Feuerwerk liefern die bravourösen Wondermints, wenn sie jenen Goldstaub fontänenweise in die Delegation der Auserwählten sprühen.
Jetzt wird mir auch klar: Draußen saß ein Vielfaches der erlesenen Fangemeinde von drinnen, denen 40 Euro möglicherweise ein unerschwinglich hoher Tribut an des Magiers Kunst waren oder die sich bei diesem extraordinären Hörerlebnis auf keinen Fall von visuellen Effekten, zum Beispiel den lebendigen Gesichtern des Hauptakteurs und seiner fabulösen Entourage, ablenken lassen wollten. Ich aber zollte gern für 65 Jahre lebende Legende einer unstrittigen Sonderklasse des musikalischen 20. Jahrhunderts.
Brian Wilson gab dem bereits in den Fünfzigern populären Instrumental-Surfsound mit den Beach Boys die Engelsstimmen, die ihm mit seinen einzigartigen, Phil Spector-inspirierten und -geformten Kreationen einen kosmischen Ritt auf der ultimativen, elektrisierenden Surf-Erfolgswelle Anfang bis Mitte der Sechziger bescherten.
Er, der das Meer nie gemocht hat, seinen Bruder und Schlagzeuger der Beach Boys, Dennis, auf gleichsam fatalistische Weise an Selbiges verlor und seinen anderen Bruder Carl auch schon zu Grabe tragen musste, darüber hinaus in den 90ern Songrechts-Prozesse mit Beach Boy Mike Love auszufechten hatte und nun heute abend nach kurzfristiger, zweifelhaft begründeter Tourabsage von BB-Mitstreiter Al Jardine 'allein' hier steht, stimmt die ehrwürdige Symphonie der "Heroes And Villains" an, eines d-e-r Meisterwerke schlechthin vom Strandjungen-Mastermind und kreativen Ausnahmekopf der Pop-Geschichte - was für ein atemloser Moment!
Seine strenge Erziehung in einer gewaltbeherrschten Kindheit trieben den Zartbesaiteten in die denkbar gefühlvollste Art von Musik, die seine Retterin war, sein immerwährender Zufluchtsort. Bis heute lebt Wilson durch sie, in Ausschließlichkeit und bedingungsloser Opferbereitschaft. Sein Verdienst als amerikanische Antwort auf die Beatles ist in unzähligen Wertschätzungen bewundernd und klar manifestiert worden und reicht bis in die heutige Generation hinein, die seit der Fertigstellung seines von schmerzenden Kämpfen in den Anfangsjahren der Idee begleitetes und in Überwindung schwerster Schaffenskrisen entstandenes Langzeitwerk "Smile" eine Ahnung bekommen haben dürfte von der maßgeblichen Bedeutung des »besten lebenden Komponisten« ( Elton John).
Brian Wilson setzt sie fort, die königliche Gala mit einem Glanzreigen aus unsterblichen Melodie-Hymnen... "God Only Knows", "Sail On Sailor" und - selbstverständlich - dem Psych-Überwunder "Good Vibrations", lockert die Playlist immer wieder auf mit den scheinbar zahllosen Surfklassikern... "Help Me Rhonda", "Do It Again", "Barbara Ann", "Surfin' U.S.A." und beschließt mit dem schlichten, ergreifenden "Love & Mercy" einen unheimlichen, mit neu zu erfindenden, würdigen Begriffen zu beschreibenden Abend im zauberhaft still nachklingenden 'Strand'-Park von Leipzig.
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