Nach "Climate Of Hunter", aus dem Jahre 1984, endlich wieder ein Lebenszeichen: TILT, 1995 erschienen.
Über diese Veröffentlichung ist schon einiges geschrieben worden und hat zu mancher Kontroverse geführt. Es ist nicht einfach, sich hiervon zu lösen, denn zwischen Erhebung zum Kultobjekt, Verriss und Versuchen, die Musik und ihre Aussage zu deuten, gab es wohl schon alles.
Darum will ich mich bei und für diese Rezension einfach einmal von persönlichen Gefühlen leiten lassen.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an ein Gespräch, das ich einmal bei einem Konzert eines Free Jazz-Musikers belauscht hatte. Ich bemerkte, dass einige Zuhörer in der Pause fragten, welche konkrete Aussage er denn mit dem, was er da auf der Bühne bot, treffen wolle.
Erstaunt darüber antwortete dieser, er habe gar keine Absicht gehabt, hier konkrete Aussagen, seien es politische oder anderweitig gesellschaftliche, auszudrücken, sondern sein Spiel sei einfach spontan von den Gedanken und Empfindungen geprägt, die er im Augenblick des Spieles habe. Und wenn der Zuhörer dann die Möglichkeit und 'den Draht' habe, diesen zu folgen, dann könne er auch verstehen, was er ausdrücken wolle.
Diese Aussage habe ich zum Anlass genommen, die Scott Walker-Musik auf mich einwirken zu lassen, und unter diesem Hintergrund soll diese Betrachtung dann auch erfolgen.
Walker selbst sprach in einem Interview von einem Vergleich der Betrachtungsweise seiner Musik zu Gil Evans, dem großartigen Jazzarrangeur, und bemerkte, dass er, ähnlich wie Evans, möchte, dass das Orchester atmet und den freien Raum nutzt.
Grundsätzlich ist zu dieser Musik anzumerken, dass sie sehr schwer zugänglich ist, da sie von vertrauten Klangmustern abweicht, sich keinen allgemein gängigen Strukturen unterwirft und verstörend wirkt. Zunächst wirkt alles erst einmal sehr düster, sehr morbide, Angst einflößend.
Die Texte wirken auf den Leser dann auch sehr rätselhaft sowie sehr tiefgründig und lassen viel Raum für individuelle Interpretation. Meines Erachtens greift Walker hier eindeutig Themen des literarischen Dramas und des Chansons auf. Er verarbeitet verschiedene Themen, z.B. über Bombenkriege oder den Tod von Pasolini, dem italienischen Filmemacher.
Ich habe den Eindruck, dass er seine Texte als 'Vehikel' benutzt, um darauf die Musik spontan aufzubauen, denn nach eigenen Aussagen wurde versucht, das Ganze so live wie möglich einzuspielen. Dieses würde auch einen Teil der entstandenen Musik gut erklären.
Doch bevor man sich den Texten zuwendet, wird man von der Musik ergriffen und ich werde einmal 'auf diesen Zug aufspringen' und einige Runden mitfahren.
Zu den Stücken im Einzelnen:
Farmer In The City:
»Do I hear 21?«, unterlegt mit einem drohnenhaften Ton, lässt uns schon sogleich stutzen.
Streicher setzen ein, ich erinnere mich an Sibelius, an Grieg...
SW als Opernsänger? Im Gegensatz zu früher singt er hier jedoch schon eher verhalten, zurückgenommen, bisweilen scheint er einen 'Klops im Hals' zu haben.
Hohe Dramatik bestimmt das Stück mit einer doch sehr betonten Ruhe, da die Streicher für mich romantisch verklärt die Stimmung tragen. Das Stück bohrt sich in die Seele, aber angenehm. Es ist plötzlich viel zu kurz, nach 6'37'' beendet.
The Cockfighter:
Sehr verstörend, unheimlich, die kämpfenden Hähne scheinen sich voller Unruhe auf ihren Kampf vorzubereiten, bis plötzlich unvermittelt nach 1'25'' schockmäßig programmierte 'industrial sounds' auf den Hörer lospeitschen. Es folgt eine ruhige Struktur mit dem Rhythmus echter Drums, bis es dann wieder losprescht, aber wieder anders, mit Bläsern, die teils dissonant einsetzen. Wieder Ruhe, wieder Unruhe, Stimmen aus dem Jenseits, Sprache, die rückwärts zu laufen scheint. Dann ein Gitarrensolo aus dem Nichts, unerwartete Harmonie einleitend. Aber nicht lange. Eine sehr intelligente Komposition, sehr mitreißend...
Bouncer See Bouncer:
noch 'entfernter von der Normalität' wird es jetzt. Als Hintergrund eine nervende Pauke, die das Gefühl von Angst und Bedrohung erzeugt. Darüber seltsame Geräusche, von einem hurdy gurdy erzeugt. Heuschrecken sollen hier wohl simuliert werden. Das vielleicht bedrohlichste Stück, zu dem ich am schwierigsten einen Zugang finde. Eiskalt wirkt das alles, bis sich nach 4'40'' eine Tür zu öffnen scheint und einen paradiesischen Augenblick erklingen lässt, bis die böse Pauke wieder kommt und alles zunichte macht.
Angsteinflößend!
Manhattan:
Die mächtige Orgel erinnert an "Archangel" von den Walker Brothers. Dieses Stück scheint sich ständig in Auflösung zu finden, es passiert einiges, afrikanische Rhythmen unterbrechen, das Thema wird wieder aufgenommen, viel Unruhe und Hoffnung scheinen sich hier abzulösen. Ängste, Hoffnungen, die sich dem Einwanderer in Manhattan vielleicht gezeigt haben (?).
Face On Breast:
So könnte auch ein Stück von Peter Gabriel beginnen. Langsam entwickelt sich über Gitarrentönen und dumpfen Trommeln eine Struktur, eine melancholische Stimmung baut sich auf.
Mit diesem Stück kann man sich durchaus anfreunden und ich halte es für das zugänglichste der CD.
Bolivia '95:
Leicht südamerikanische Klänge zu Beginn, die dann aber wieder einem strikt unflexibel geschlagenen Rhythmus weichen, bis leichte Perkussionsgeräusche das Stück wieder in Schwingung versetzen. Man spürt eine Leichtigkeit, aber auch große Ernsthaftigkeit. Musikalisch geht das für mich auch wieder in Richtung Peter Gabriel. Relativ zugänglich und weitaus weniger kompliziert als die ersten Stücke der CD.
Es ist auch weniger verstörend, wenngleich auch ein plötzlicher Wechsel der Stimmung mit sägender Gitarre einen die Harmonie sprengenden Wechsel bringt.
Patriot:
Scotts Stimme 'schwebt' hier über Streichern. Das kommt wie ein Chanson vom Feinsten.
Ein Stück, das sich auch abhebt von den übrigen. Hier erlebt die alte Dramatik der Walker Brothers für mich eine kleine Renaissance. Zumindest hält dieser Zustand für etwa 2'30'' an, denn dann wird die Harmonie sanft unterbrochen. Aber insgesamt das für mich schönste der CD.
Tilt:
Eine schon fast 'normale' Nummer. Vielleicht der 'Hit' der CD?
Normale Harmonien bestimmen den Ablauf. Ein herrlich verdrehtes Gitarrensolo ist das Sahnehäubchen. Hier dürfte der Hörer nicht all zu sehr verschreckt werden, wenngleich sicher das übliche Hörverhalten nicht als Maßstab gesetzt werden sollte.
Rosary:
Scott spielt Gitarre, d.h. irgendwie scheint er im Hintergrund zu klimpern. Hier wieder der leichte Hauch des Unheimlichen, Düsteren, das Lied treibt. Zum Ausklang verabschiedet sich Scott mit »...and I gotta quit...«
Ich denke, dass viele, die sich der Platte genähert haben und den Zugang nicht fanden, die Stücke besser in umgekehrter Reihenfolge hätten spielen sollen, denn die vielleicht anfänglich verstörende Atmosphäre baut sich nach und nach ab. Man ist hinterher nicht mehr so angestrengt, sondern hat das Gefühl, hier etwas wirklich Außergewöhnliches und Einzigartiges gehört zu haben, dass nach mehr verlangt.
Keine so sperrige Musik, wie so oft behauptet wird. Sperrig nur für jene, die sich sperren!
Line-up:
Scott Walker (vocals, whistles - #5, guitar - #9)
Ian Thomas (drums, bass drum on lap and kit all at once - #5 , military bass drum, cymbals - #7)
John Giblin (bass)
Brian Gascoigne (keyboards, celeste - #2,3, Organ of the Methodist Central Hall - #2,3,4)
David Rhodes (guitars - #1-8)
Strings of Sinfonia of London (strings - #1,7)
Elizabeth Kenny (chittaroni - #1)
Roy Carter (oboe - #1,3)
Hugh Burns (guitar - #2,6)
Alasdair Malloy (percussion - #2,4,6)
Louis Jardim (percussion - #2,4,6)
Andrew Cronshaw (horns, reeds - #2, concertina - #4, ba-wu flute - #6)
Jonathan Snowden (flutes - #3, piccolo - #7)
Andy Findon (bass flute - #3)
Jim Gregory (bass flute - #3)
Roy Jowitt (clarinet - #3)
Peter Walsh (prog bass drum - #3)
Colin Pulbrook (Hammond organ - #5)
Peter Walsh (whistles - #5)
Greg Knowles (cimbalom - #6)
John Barclay (trumpets - #7)
Tracklist |
01:Farmer In The City [Remembering Pasolini] (6:38)
02:The Cockfighter (6:01)
03:Bouncer See Bouncer (8:50)
04:Manhattan (6:05)
05:Face On Breast (5:15)
06:Bolivia '95 (7:44)
07:Patriot [A Aingle] (8:28)
08:Tilt (5:13)
09:Rosary (2:41)
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Externe Links:
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