The Who / Tommy And Quadrophenia Live
Quadrophenia
Ich muss gestehen, dass ich nicht unbedingt der größte Freund von Musicals bin, prinzipiell genauso wenig von sogenannten Rock-Opern. Für mich persönlich sind hier die Grenzen fließend. Wo fängt eigentlich bei Queen der Rock an und hört die Oper auf?
In den 60ies war das hingegen noch ganz anders. Andrew Lloyd Webber trieb noch nicht sein Unwesen und experimentierfreudige, draufgängerische, beseelte Formationen wie die Pretty Things ("S.F. Sorrow", Dezember 1968), Small Faces ("Odgens' Nut Gone Flake", Juni 1968) oder The Who ("Tommy", Mai 1969) versuchten sich an Konzeptalben, denen eine thematische und durch das gesamte Werk führende Story zu Grunde lag, häufig auch mit narrativem Erzähler.
Dies ging mit der damaligen Entwicklung einher, dass sich ab 1966 immer mehr Bands dem 45er-Diktat entzogen, um ihr Hauptaugenmerk auf die Produktion von vergleichsweise ausgefeilten Alben zu legen. Hier waren selbstredend Bands wie die Beatles und Beach Boys Vorreiter, neue Formationen wie Pink Floyd zogen nach und die Eingangs erwähnten profilierten sich durch stringente Songzyklen, wobei sich insbesondere Pete Townshend hervortat, der bereits im Dezember 1966 mit "A Quick One, While He's Away" von der LP "A Quick One" (in den USA "Happy Jack") einen ersten Vorgeschmack auf das ablieferte, was bald darauf folgen sollte. "The Who Sell Out" war bereits eine witzige Konzeptplatte rund um einen fiktiven Piratensender, aber mit "Tommy" etablierte er endgültig das neue Genre 'Rock-Oper', zumal das Teil ein riesiger kommerzieller Erfolg wurde (Platz 2 im UK, Platz 4 in den USA und dort der große Durchbruch für die Band). "Tommy" wurde Mitte der 70er verfilmt und warf einen Soundtrack ab, der in den USA Platz 2 in den Billboard-Charts erreichen konnte.
Zwei Jahre vorher hatten Pete Townshend und The Who mit "Quadrophenia" bereits die nächste Rock-Oper hinterhergeschoben, wiederum ausgesprochen erfolgreich, wie die Höchstplatzierung No. 2 im UK und den USA eindrucksvoll belegt.
Allerdings sah sich die Band auf Grund der komplexen Struktur des Werkes bei den damaligen technischen Möglichkeiten außerstande, selbiges live auf der Bühne zu präsentieren.
Dies wurde erst 23 Jahre später verwirklicht, erstmals am 29. Juni 1996 im Londoner ‚Hyde Park' vor 150.000 begeisterten Leuten für den 'Prince's Trust' von Prinz (der ewige) Charles. Dabei war Roger Daltrey reichlich am Auge lädiert, denn Gary Glitter, der eine Gastrolle spielen durfte (The Godfather), hatte ihm bei den Soundchecks einen Mikrofonständer in selbiges gerammt. Darüber hinaus traten an diesem denkwürdigen Tag noch Bob Dylan und Eric Clapton mit kompletten Sets auf!
Aber The Who hatten Lunte gerochen und bearbeiteten "Quadrophenia" soweit, dass sie damit auf Tournee gehen konnten. Dabei half ihnen die (damals) moderne Videoprojektionstechnik und das Stück wurde zu einem multimedialen Ereignis, wobei auch viele Sequenzen der 1979 entstandenen Verfilmung von "Quadrophenia" verwendet wurden, zusammen mit historischen Bildern der Nachkriegsära (ab 1945). Auch der narrative Erzähler (Jimmy, die Hauptfigur) kam jetzt nicht mehr direkt von der Bühne, sondern wurde in die Videoeinspielungen integriert.
Dieses multivisuelle Ereignis ist nun erstmals als Bild-/Tonträger veröffentlicht worden und ist Hauptbestandteil der wahrlich opulenten Tripple-DVD "The Who - Tommy And Quadrophenia Live, With Special Guests".
Der Auftritt stammt aus dem November 1996 in den USA und enthält das komplette Werk. Als Gäste treten Billy Idol (natürlich The Ace Face), P.J. Proby (The Godfather) und Simon Townshend (ja, der Sohnemann, als The Bus Driver und in der Band als Gitarrist) auf. Die Band wird u.a. durch einen weiteren Sohnemann verstärkt, nämlich Zak Starkey am Schlagwerk, der seine Sache ausgezeichnet macht und statt nach Daddy Ringo auszuschauen, vom Look her eher an einen Ober-Mod gemahnt. Aber das passt ja auch zur Story, die ich persönlich sehr interessant finde, denn sie zeigt die Zerrissenheit eines jungen Mannes in der zweiten Hälfte der 60ies, seine Identitätssuche, die Abgrenzungsversuche von der spießigen und muffigen Erwachsenenwelt, die Drogenproblematik, das Gewaltpotential von entstandenen und entstehenden Jugendsubkulturen wie Rocker und Mods.
Die dazugehörige Musik ist über jeden Zweifel erhaben und wird mit großem Engagement vorgetragen, wobei Townshend überwiegend Akustikgitarre spielt und Roger Daltrey es manchmal zu gut meint und im Gesangsvortrag unsauber wird.
Die Aufnahmen waren ursprünglich nicht für eine Veröffentlichung vorgesehen, sondern für's Bandarchiv. Das ist ihnen auch durchaus anzusehen, denn es sind für heutige Verhältnisse doch recht wenige Kameraeinstellungen vorhanden.
Nichtsdestotrotz ist das Bild gut, wenn auch die gewaltigen schwarzen Balken oben und unten ziemlich stören, zumal kein echtes 16:9 angegeben wird.
Der Sound ist okay, ziemlich roh, was aber gerade atmosphärisch gut rüberkommt und auch verhindert, dass das Ganze in eine Musical-Ecke abdriftet.
Genau dies passiert nämlich bei "Tommy", dem zweiten Teil des Pakets, aufgenommen 1989 im 'Universal Amphitheatre' in Los Angeles mit vielen Gästen wie Phil Collins (witziger Uncle Ernie), Billy Idol (Dauergast?), Elton John (The Pinball Wizard), Patti LaBelle als hinreißende Acid Queen und Steve Winwood (The Hawker).
Die Band an sich ist durch unzählige Backgroundsänger und Blechbläser gewaltig aufgeplustert und zusammen mit der Atmosphäre der Location ergibt sich für mich tatsächlich eher ein Musical-Charakter. Dieser Auftritt ist bereits Anfang der 90er unter dem Namen "The Who Live featuring The Rock Opera Tommy" als VHS-Kassette veröffentlicht worden.
Wie damals gibt es auch jetzt zusätzlich den zweiten Set des Auftritts zu sehen/hören, leider wiederum gekürzt um die Zugabe "Summertime Blues", mit vielen Hits wie "I Can See For Miles", "Won't Get Fooled Again" (fulminante Version), "Who Are You?" oder auch Townshend Solo-Tunes wie "Face The Face". Daltrey und Townshend waren damals noch richtig in 'Ääktschen', der eine betätigt sich ständig als Lassowerfer, der andere kultiviert seinen Windmühlenschlag und springt durch die Gegend wie'n Känguru.
Das ist acht Jahre später nicht mehr der Fall. Dafür ist aber bei der ebenfalls enthaltenen Zugabe des Konzerts, wiederum Hits wie "I Can't Explain" (die erste Single der Band überhaupt!), "Won't Get Fooled Again" (unplugged zu zweit und mit herrlich humoristischen Einlagen - "Wir sind besser als Ike & Tina Turner"), "Behind Blue Eyes" oder "Who Are You?", deutlich bemerkbar, dass die Band schlanker und erdiger agiert. Den letztgenannten Titel leitet zunächst Roger Daltrey auf der Akustischen ein, deren Stromversorgung aber defekt ist. Ganz Profi nimmt er nunmehr das F... - Wort in den Mund, was der DVD übrigens den 'FSK 15' - Sticker einbringt, plaudert mit Pete und dem Publikum bis es weitergeht, und Pete Townshend reißt im Folgenden vor lauter Wucht des Vortrags gar eine Saite, aber er spielt ungerührt weiter, rüpelt wie in besten Zeiten über sein Instrument und deutet im Schlussakkord die völlige Zerstörung an, altes Trademark aus Zeiten, als die Kosten der zerstörten Instrumente bei weitem die Konzerteinnahmen überstiegen. Das Publikum tobt und ich bin schlichtweg begeistert. Hätte ich mir doch nur 1997 The Who in Deutschland angeschaut.
Bei diesem hier dokumentierten Auftritt stimmt jedenfalls die Chemie innerhalb der Band und mit dem Publikum und es geht ungemein locker, aber auch gleichzeitig konzentriert zur Sache. Was für eine überragende Bühnenpräsenz!
Aber damit ist dieses Dreigestirn immer noch nicht ausgeschöpft. Es gibt noch drei Bonustracks aus dem 'Giants Stadium', 1989 in New Jersey, übrigens mit der absolut besten Klangqualität des gesamten Pakets, und wir dürfen uns bei beiden Rock-Opern an der sogenannte "MX Interactive Visual Commentary" - Funktion erfreuen, wo auf Tastendruck Roger Daltrey und Pete Townshend anno 2005 erscheinen und abwechselnd Informatives zu den beiden Projekten und zur Band(geschichte) an sich zum Besten geben. Das ist wirklich interessant und bringt einem beide Werke erheblich näher als alles, was mensch darüber so nachlesen kann.
Nicht zuletzt ist diese Wundertüte auch ein würdiges Vermächtnis für John Entwistle, der nämlich durchgehend als enorm behänder und flexibler Bassist zu bestaunen ist und dabei ein geradezu unendliches Repertoire an Gesichtsausdrücken und Bewegungsabläufen präsentiert. Dieses Original ist definitiv nicht zu ersetzen!
Fazit:
Für alle Who - Fans ist das natürlich eine Pflichtanschaffung, aber ich denke, dass auch alle anderen, die guter (Rock)Musik nicht abgeneigt sind, an diesem komfortablen Paket ihre helle Freude haben könnten, vor allem dann, wenn latentes Interesse an sogenannten Rock-Opern vorhanden ist. Aber auch alle Interessierten an Rock- und Zeitgeschichte können hier ihren Nutzen ziehen, daher gibt es von mir ein uneingeschränktes 'Highly Recommended'!
Technische Ausstattung:
NTSC 4:3; Colour; Regions 2,3,4,5; Dolby Digital 5.1 und Dolby Digital 2.0
Dialoguntertitel in Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch


Spielzeit: 7 Std.., Medium: 3-DVD, Warner Music Vision / Rhino Entertainment , 2005
DVD 1:"Quadrophenia" (92 Minuten)
01:I Am The Sea 02:The Real Me 03:Quadrophenia 04:Cut My Hair 05:The Punk And The Godfather 06:I'm One 07:The Dirty Jobs 08:Helpless Dancer 09:Is It In My Head? 10:I've Had Enough 11:5:15 12:Sea And Sand 13:Drowned 14:Bell Boy 15:Doctor Jimmy 16:The Rock 17:Love Reign O'er Me

DVD 2: Tommy Live at Universal Amphitheatre, Los Angeles 1989 (ca. 62 Minuten)
01:Overture 02:It's A Boy 03:Amazing Journey 04:Sparks 05:Eyesight To The Blind 06:Christmas 07:Cousin Kevin 08:The Acid Queen 09:Pinball Wizard 10:Do You Think It's Alright? 11:Fiddle About 12:There's A Doctor 13:Go To The Mirror! 14:Smash The Mirror 15:Tommy Can You Hear Me? 16:I'm Free 17:Extra Extra/ Miracle Cure 18:Sally Simpson 19:Sensation 20:Tommy's Holiday Camp 21:We're Not Gonna Take It

DVD 3: Hits Live in Concert (ca. 119 Minuten) LIVE AT THE UNIVERSAL AMPITHEATRE, LOS ANGELES - 1989 - SECOND SET
01:Substitute 02:I Can See For Miles 03:Baba O Riley 04:Face The Face 05:Love Reign O'er Me 06:Boris The Spider 07:Dig 08:Join Together 09:Rough Boys 10:You'd Better You Bet 11:Behind Blue Eyes 12:Won't Get Fooled Again 13:Who Are You
QUADROPHENIA ENCORE, 1996 - 1997 US Tour
14:Wont Get Fooled Again (Acoustic) 15:Substitute 16:I Can't Explain 17:Kids Are Alright 18:Behind Blue Eyes 19:Who Are You
LIVE HITS Giant Stadium
20:Acid Queen 21:Pinball Wizard 22:A Little Is Enough
Olaf "Olli" Oetken, 30.11.2005