The Who / Tommy
Tommy Spielzeit: 75:00
Medium: LP/CD
Label: Polydor, 1969/1983 (Deluxe Edition 2003)
Stil: Rock


Review vom 24.12.2011

    
Jochen v. Arnim
Wir schreiben das Jahr 1969, genauer gesagt, den 23. Mai 1969. In Amerika wird im Musical Hair das Zeitalter des Wassermanns besungen, man bereitet sich auf eines der größten Live-Spektakel der Welt vor, ohne zu wissen, dass es eines wird. Gemeint ist natürlich das Festival, das unter dem Namen Woodstock in die Geschichtsbücher Einzug halten wird. In England hatte die seinerzeit lauteste Rock-Band der Welt ein Meisterwerk vollendet, das an eben diesem Tag in die Plattenläden kam. The Who-Mastermind Pete Townshend war es mit seinen drei Kollegen Roger Daltrey, John Entwistle und Keith Moon gelungen, die erste richtige Rock-Oper zu Papier und nun auch in die Rillen zu bringen.
"Tommy" war geschaffen. Abseits handelsüblicher Standards war ein Konzeptalbum entstanden, das, wenn auch nicht das erste seiner Art, so doch durchaus wegweisend für viele weitere Veröffentlichungen anderer Musiker sein sollte. Das Werk schaffte es bekanntermaßen nach ganz oben in die Charts, wurde verfilmt, kam auf die Bühne, ist bis heute als eine der wichtigsten Veröffentlichungen der Rock-Musik anzusehen und taucht immer wieder in allen möglichen Listings wie 'Die 100 besten Rockalben' o. ä. auf. Nach der Studiofassung erschien 1975 der Soundtrack zum Film (Regie führte der kürzlich verstorbene Ken Russell), in dem neben Who-Sänger Daltrey in der Hauptrolle auch berühmte Kollegen wie Tina Turner, Eric Clapton, Elton John oder der begnadete Jack Nicholson Gastrollen innehatten. Als die Rock-Oper Ende der achtziger Jahre in Los Angeles komplett inszeniert live auf der Bühne von The Who gespielt wurde, wirkten hier ebenfalls Musik-Kollegen wie Steve Winwood, Elton John, Patti LaBelle oder Phil Collins mit. Als einmalige Benefizveranstaltung ausgewiesen, schossen die Eintrittspreise in Bereiche jenseits des für den Normalbürger Erschwinglichen. "Tommy" wurde bekanntermaßen oft als musikalische Fortführung - nicht inhaltlich - der sog. Mini-Rock-Oper "A Quick One While He's Away" angesehen, die Townshend bereits drei Jahre zuvor auf dem zweiten Album der Band "A Quick One" intoniert hatte. Auch hier schon schaffte es Pete Townshend, wenn auch nur auf knapp zehn Minuten, eine in sich komplette Story in unterschiedliche musikalische Abschnitte zu teilen, jeder für sich ein eigener Song, trotzdem aber alleine nicht wirklich lebensfähig.
Aber kommen wir zur Geschichte hinter der Musik von "Tommy", bzw. zur Handlung, die uns durch die Musik vermittelt wird. Bereits die sehr orchestrale "Overture" gibt uns einen musikalischen Überblick und Schnelldurchlauf im Hinblick auf die folgenden gut 75 Minuten. Aus sämtlichen Akten der Aufführung finden wir kleine Entlehnungen und werden zum eigentlichen Beginn der Story geführt. Es erfolgt ein schöner Wechsel zwischen hauptsächlich akustischer und wenig elektrischer Gitarre, alle Blasinstrumente wurden vom Bassisten John Entwistle eingespielt und zwischendurch trommelt immer wieder der begnadete Keith Moon. Schon am Anfang wird deutlich, dass Townshend wesentlich öfter Gesangsparts übernimmt, als das bei den sonstigen Stücken von The Who der Fall ist. Aber keine Who-Scheibe ohne Roger Daltrey, den Rauschgoldengel des Rock, der passend zur Storyline mit seinem Organ immer wieder die richtigen Akzente setzt. Teilweise recht lange instrumentale Anteile stehen im Wechsel mit den Gesangspassagen.
Die Hauptfigur der Oper ist Tommy Walker, Sohn eines sich im Kriegseinsatz befindenden Air Force-Piloten. Seine Mutter erhält die Nachricht, dass man ihren Mann als verschollen listet und nicht erwartet, ihn und seine Kameraden wiederzufinden. Sie gibt sich den Avancen eines Lebemanns hin, den sie in einem Ferienlager kennenlernt, heute würde man sagen, er war Chefanimateur im Robinson-Club. Nicht nur an dieser Stelle verwaschen die leicht variierenden Handlungen zwischen Original und Filmversion, für das Gesamtwerk und das Verständnis jedoch unerheblich. Der allen anderslautenden Erwartungen zum Trotz dennoch heimkehrende Captain Walker erwischt seine Frau mit dem Lover und erschlägt ihn des Nachts (im Film ist es andersrum), was von dem noch kleinen Tommy beobachtet wird. Er verfällt daraufhin in einen dissoziativen Zustand, in dem er für seine Umwelt nicht mehr erreichbar ist, erscheint taub, blind und stumm. Entgegen den Regeln der modernen traumatherapeutischen Ansätze versucht man, ihn mit Drogen vollzupumpen ("The Acid Queen") oder andere abstruse Heilmethoden.

Alles hilft nicht, Tommy bleibt in seinem posttraumatischen Zustand ("Amazing Journey"), in dem er zwar in silberfarbene Roben gewandete Figuren (musizieren) sieht und ist sogar den Missbräuchen perverser Verwandter ("Cousin Kevin", "Fiddle About") ausgesetzt. Trotz seiner Einschränkungen schafft er es, allein mittels Fühlen das Flipperspielen derart meisterlich zu perfektionieren, dass er den Champion schlägt und selber zum Helden der Flipperspieler wird ("Pinball Wizard"). Seine wundersame Heilung ("Miracle Cure") erfährt Tommy letztendlich durch das Zerschlagen seines eigenen Spiegelbildes, kann fortan wieder sehen, hören und sprechen. Die für derartige Dinge ja immer wieder empfängliche Menschheit ("Sally Simpson") sieht in Tommy eine Art Guru, dem sie bedingungslos folgen kann, um wie er erleuchtet zu werden. Das rücksichtslose Ausbeuten der Jünger bis auf den letzten Penny lässt diese sich gegen den Messias wenden und rebellieren ("We're Not Gonna Take It"). Alleine, geläutert und somit 'erleuchtet' bleibt Tommy zurück. Die gesamte Spiritualität des Albums spiegelt die Verehrung Meher Babas wider, den Townshend seinerzeit schon einige Jahre kannte und dessen Lehren er sich zu Eigen gemacht hatte. Baba war ein indischer Guru, der besonderen Anstoß an der Art der Menschen nahm, untereinander unpassend zu kommunizieren und einander anzuschreien. Sein Wahlspruch 'Je größer die Liebe, desto sanfter die Stimme' brachte ihn selber dazu, über 40 Jahre seines Lebens zu schweigen. Pete Townshend war einer der größten Anhänger dieses Gurus - als Kopf der seinerzeit lautesten Rock-Band der Welt!
Musikalisch hat Townshend die Konzeptionierung der Songs so ausgelegt, dass die Band sämtliche Stücke ohne große zusätzliche Hilfsmittel auch auf der Bühne darbieten konnte. Die Beschränkung auf einige wenige Instrumente sollte dazu beitragen. Für die Platte wurden dennoch geschickt viele Tonspuren übereinander platziert, große Orchester und Chöre kreiert, die nie existierten (außer bei der späteren Klassik-Version). Bis auf wenige Ausnahmen stammen alle Beiträge von Pete Townshend, lediglich drei Stücke kommen von John Entwistle, eines von Keith Moon ("Tommy's Holiday Camp", das er im späteren Film als Uncle Ernie selber grandios vorträgt) und eine Entlehnung von Sonny Boy Williamson II. ("Eyesight To The Blind (The Hawker)").
Ich gestehe, dass ich mich schwer tue, Track für Track einer Analyse zu unterziehen. Das Konzept eines Konzeptalbums [sic!] ist es nun mal, keine Inhalte losgelöst von anderen zu betrachten und alles als zusammengehörige Einheit zu betrachten. Trotzdem komme ich nicht umhin, ein paar Songs hervorzuheben, die - neben "Tommy" als Gesamt-Album - ihren separaten Siegeszug um die Welt antraten. Geprägt von einem der markantesten Riffs der Rockmusik steht "Pinball Wizard" an erster Stelle, dutzendfach gecovert und wohl tausendfach von The Who live auf der Bühne gespielt, eine fetzige, rockige Nummer. Unmittelbar im Ranking der Bekanntheit gefolgt von "Acid Queen", ebenfalls ein Song der härteren Gangart, später für den Soundtrack des Film grandios von Tina Turner inszeniert, im vorliegenden Fall jedoch nicht von ihr gesungen. Wer die Sequenz einmal gesehen und gehört hat, wird sie ein Leben lang nicht vergessen. Als herausragendes rein instrumentales Stück kommt für mich auf jeden Fall "Underture" in Betracht, geprägt von E-Gitarre, Bass und den immer wieder treibenden Trommeln Keith Moons. Der Song beginnt recht moderat, steigert sich dann im Tempo und baut eine fast unerträgliche Spannung auf, vergleichbar mit dem bereits vorher laufenden "Sparks". "Underture" ist der längste Track auf der Scheibe, der mit mehr als zehn Minuten das gesamte Spektrum der spielerischen Fähigkeiten bietet. Kaum jemand wird auch "See Me, Feel Me/Listening To You" nicht kennen, den Abgesang der ganzen Angelegenheit mit dem sich ständig wiederholenden Refrain, der nur unwesentlich später bereits in Woodstock für Furore sorgte.
Mit einer kleinen persönlichen Bemerkung möchte ich diese Platten-Vorstellung schließen: Was dieses Werk für mich persönlich bedeutet? Ganz einfach, es war schlichtweg die LP, besser das Doppelalbum, das in meiner Sammlung die Nummer 1 trug, die erste Platte, die ich mir überhaupt kaufte und die den Grundstein zu einer unfangreichen Who-Sammlung legen sollte - im zarten Alter von vielleicht 13 Jahren, damals Neunzehnhundert-Anfang-der-siebziger-Jahre-zirka. Meilenstein? Jawohl. Für mich allemal.
Line-up:
Roger Daltrey (vocals)
Pete Townshend (guitars, keyboards, vocals)
John Entwistle (bass, brass, vocals)
Keith Moon (drums, percussion, vocals)
Tracklist
01:Overture
02:It's A Boy
03:1921
04:Amazing Journey
05:Sparks
06:Eyesight To The Blind (The Hawker)
07:Christmas
08:Cousin Kevin
09:The Acid Queen
10:Underture
11:Do You Think It's Alright?
12:Fiddle About
13:Pinball Wizard
14:There's A Doctor
15:Go To The Mirror
16:Tommy Can You Hear Me?
17:Smash The Mirror
18:Sensation
19:Miracle Cure
20:Sally Simpson
21:I'm Free
22:Welcome
23:Tommy's Holiday Camp
24:We're Not Gonna Take It
25:See Me Feel Me/Listening To You
Externe Links: