W.I.N.D. / Groovin' Trip
Groovin' Trip
Diese (Wahnsinns-)Platte hat es verdient, mal etwas weiter ausholen und zu versuchen, sie in einen Kontext zu stellen, der den Zeitpunkt ihrer Entstehung (2004) relativiert.
Wer das erste mal einen Blick auf das Cover wirft, fühlt sich um Jahrzehnte zurückversetzt. LP-Cover und Konzertposter (besonders deutlich aus Bill Graham's Fillmore East und West) mit dieser und ähnlicher Schriftart und Farbzusammenstellung waren geradezu ein Erkennungszeichen für die Zeit, als aus Pop der Rock geboren wurde und lange Blues-Rock Improvisationen in Ermangelung anderer Ausdrücke als 'progressiv' bezeichnet wurden.
Eine Zeit, als der Südwestfunk jeden Nachmittag 5 Stunden lang im 'Pop Shop' solche Musik spielte. Cream, Hendrix, Steppenwolf, das unvermeidliche "In-a-gadda-da-vida" von Iron Butterfly, das unerbittliche "Summertime Blues" von Blue Cheer usw., im September '69 dann Auschnitte eines Festivals, das kurz vorher im August stattfand und wie es noch nie eins in dieser Form und Grösse gegeben hatte: Woodstock. Der damals 14-jährige Rezensent war begeistert! Alles war ja neu, unbekannt, unverbraucht.
Vom 'Summer of Love' 1967 mit seinem Monterey Pop Festival waren gerademal die ersten herbstlichen Blätter übrig und seitdem entwickelte diese Epoche natürlich auch ihre eigene Sprache, (und wir Jugendliche saugten die sich so cool anhörenden englischen Ausdrücke auf wie ein Schwamm), alles war 'groovy', die etwas älteren schmissen 'Trips', die neuen Stars einer noch nie dagewesenen Musik politisierten richtig (ja tatsächlich!) und versuchten, die vielzitierte Meinungsführerschaft der sogenannten Gegenkultur an sich zu reissen.
Da wurde der '68er Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten nach Prag, der Alexander Dubcek's Prager Frühling abrupt beendete, von Brian Auger/Julie Driscoll mit "Czechoslovakia" kommentiert (aus der 69er Doppel-LP "Streetnoise", die ich schon seit ihrem Erscheinen kenne und in Zeiten, die ich bewusst miterlebt habe - die Angst der Eltern vor einer kriegerischen Auseinandersetzung war fast greifbar!), die Rolling Stones begleiteten mit "Street Fighting Man" die Studentenunruhen 1968 musikalisch, auch die von den politischen Verhältnissen ernüchterten (?) Beatles machten Politik zum Thema und wandten sich mit "Revolution" schon wieder ab ('if you talk about destruction, don't you know that you can count me out...') - die Jugend und ihre Helden hatten nur dieses eine Vehikel namens Musik.
Das neue Jahrzehnt kam, Hendrix verabschiedete sich, direkt gefolgt von Janis, aber jeden Tag gab es so unendlich viel Neues zu entdecken, ob Free, Jethro Tull oder Humble Pie. Die Liste würde kein Ende nehmen. Aus Amerika kam die Antwort auf die 'britische Invasion' u.a. in Form der Allman Brothers Band und vielen anderen, die aus eigenen (Blues-)Wurzeln dann ein ganz spezielles Rock-Süppchen kochten. Wie schon manche der Engländer, 'improvisierten' diese Bands ellenlang und etablierten das, was man heute 'Jam Rock' nennt. Und ich war, dann 15 bzw. 16 Jahre alt, mittendrin in diesen unfassbaren Klängen. Ich gestehe aber, dass mir '70/'71 Grateful Dead noch unbekannt waren...da war ich mit den Anfängen von 'Kraut-Rock' beschäftigt...
Man fragt sich: Was hat das alles mit dieser neuen Platte von W.I.N.D. zu tun? Eine ganze Menge, oder eigentlich: alles! Die CD beatmet die glorreiche Vergangenheit! Das fängt wie eingangs erwähnt schon mit der Gestaltung des Covers an und auch der Inhalt ist eine einzige Retro-Orgie. Ein kurzer Blick auf die Spielzeiten, die Tatsache, fast die Häfte der Songs in 'echten' Live-Versionen vorzulegen (die anderen Tracks wurden lt. dem sehr guten Booklet 'Live im Studio' eingespielt) - ja klar, man sehe sich nur die vielen, über 30 Jahre alten Platten an - hier will uns jemand in die Zeit zurückversetzen, als ein Song mit mehr als 10 Minuten Länge noch kein Kopfschütteln, sondern Begeisterung auslöste.
Diese italienische Band schafft es, die Erwartungen sogar noch zu übertreffen. W.I.N.D. sind wohl sowas wie die moderne Ausgabe der Power-Trios und auf einem musikalischen Niveau, das doch die eine oder andere so hochgelobte Formation hinter sich lässt. Wer ist schon Clapton? Der war mal ein Gott? Möglich, aber für meinen Geschmack im Vergleich zu Jimi Barbiani keiner an der Gitarre. Der Eric sollte sich das mal anhören. Vielleicht sattelt er dann auf Jazz oder sonstwas um und verschont uns mit seinem seichten Geklampfe...
Sicherlich gibt es auch andere 'moderne' Bands, die in die gleiche Kerbe schlagen. Die aus den Allman Brothers hervorgegangenen Gov't Mule beispielsweise, die ja nun in der Szene nichts anderes als Verehrung erfahren. Musikalisch extrem hochwertig und auch nach Allen Woody's Tod die Klasse haltend. Aber eins ist sicher: W.I.N.D. stehen auch da locker auf Augenhöhe. Dieser zwanglose 'Groove' - der schon auf ihrer ersten Platte "Hypnotic Dream" sofort spürbar war - hier ist er perfektioniert, das macht Freude! Freude? Ach Scheisse, nee, das ist einfach geil!
Die Band als klassisches Gitarre/Bass/Schlagzeug-Trio hatte bei sechs der neun Songs Unterstützung vom Southern-Rock erfahrenen Johnny Neel, der ja schon mit den Allman Brothers brillieren konnte. Der ist sicher ein aboluter Profi und steuert ausser den über jeden Zweifel erhabenden Keyboards auch seine bluesige Stimme bei, insgesamt eine hervorragende Performance (speziell bei "Why me", das den Hörer in seiner Intensität geradezu anspringt), aber der Star an sich ist er für mich nicht, eher ein im positiven Sinn abgezockter Abtreiber eines Geschehens, das sich selbst entfesselt. Und das ist sicher eine Auszeichnung seiner Leistung! Die ganze Platte als Maschine, gut geölt, ihren perfekten Dienst versehend.
Es gibt mit "Whipping Post" folgerichtig ein Allman Brothers-Cover, und seltsamerweise ist es dieser Song, der mir zu (un-)gehobelt daherkommt. Das brachten die Original-Brothers - wen wundert's - auf ihrer "Live at Fillmore East"-Platte von 1971 besser. Auch die norwegische Band, die gleich den Songtitel als Bandnamen gewählt hat spielt das etwas flüssiger. Aber das tut dieser CD natürlich keinen Abbruch. Bis auf diesen Klassiker stammen alle anderen Titel von der Band selbst, mal mit, mal ohne Johnny Neel als Co-Autor.
Selbst ausgelutschte Themen erfahren eine regelrechte Renaissance und knallen mit Inspiration und Feuer in den Gehörgang. "Boogie Man" etwa könnte zwar auch "nur" eine Coverversion irgendeines John Lee Hooker-Klassikers ein - aber nein - auch hier wird wieder etwas Besonderes über die Lautsprecher kommuniziert. Die Gitarre, mal lärmend, mal streichelnd, mit Johnny Neel's fordernden Keyboards und Harp unterlegt - und auch von seiner Stimme getragen. Aber das Ergebnis ist wieder mehr als die Summe seiner Teile. Dieses 'tighte' Zusammenspiel, dieses Jammen und doch auf den Punkt kommend, das nimmt den interessierten Hörer sofort gefangen.
Diese CD ist ein ganz grosser Wurf für Freunde der üblichen Verdächtigen, sprich: Southern Rock a lá Allman Brothers, Gov't Mule oder auch Jam-Bands allgemein. Selbst Liebhaber von Grateful Dead werden ihre Freude dran finden können, auch wenn es keinerlei Dead-typisches Wandeln zwischen den Stilen gibt. Diese Platte ist einfach grosses (Blues-Rock) Musik-Drama, es gibt etliches zu entdecken (und man findet immer Neues) was ja wohl für die Qualität der Italiener spricht. Das über 14-minütige, mal hinfliessende, mal orgastische "Trieste Wind" setzt den Schlusspunkt der fast 79 Minuten, wovon keine einzige vergeudet war. Wo sonst gibt's sowas noch? Eben!
Letztendlich noch zu erwähnen - die Produktion ist nichts weniger als perfekt. Die Live- und Studiotracks im identischen Klanggewand, keine Brüche, die irgendein Hörerlebnis stören könnten, ein für diese Art Musik massgeschneiderter Sound, die gekonnt 'psychedelische' Stereoabmischung der Gitarre auf "One in a Million" - hier hat sich Stefano Amerio der selben Quadratur des Kreises angenähert wie die Band mit ihrer Musik.
Also - hier mal ein ganz klare Aussage: Kaufen und geniessen! Um auf die (lange) Einleitung zurückzukommen: Wäre diese Platte 1969 oder 1970 erschienen würde man heute sagen, 'die ist nicht mehr zu toppen'. Wie erfreulich, dass diese hervorragende Produktion aus 2004 den selben Bestand haben wird und jetzt schon zum Klassiker mutiert - ein Pflichtkauf!
Spielzeit: 78:50, Medium: CD, 2004
1: Lucky Man (4.46) 2: Fake it (4.55) 3: Why me (10.24) 4: Boogie Man (8.37) 5: Can you feel me (5.38)
6: Dance with the Devil (9.19) 7: Whipping Post (13.01) 8: One in a Million (7.21) 9: Trieste Wind (14.36)
Manni Hüther, 4.1.2005