Die Wings waren wohl eine der sträflichst unterbewerteten Bands der Siebziger. Schwierig nachzuvollziehen, woran das eigentlich lag, aber einen großen Anteil hatte wohl seinerzeit die Journaille, die kübelweise Häme über den Wings verschüttete. Genau diese widerliche Form des Journalismus, der sich im Besitz des 'Steins der Weisen' glaubt und seinen Lesern vorschreiben möchte, was sie gefälligst gut zu finden haben.
Unbestreitbar hatten die Beatles (für meinen Geschmack ab "Revolver") einige bahnbrechende, gar epochale Alben der Musikwelt hinterlassen, aber das Phänomen 'Beatles' war seinerzeit bei der schreibenden Zunft offenbar ziemlich 'ausgelutscht'. Neue Musikstile wurden von den Musikmagazinen, manche davon sich im Besitz der Meinungsführerschaft glaubend, favorisiert. Besonders schäbig war in diesem Zusammenhang der Spott, der sich über Linda McCartney ergoss. Zugegeben: Paul McCartneys über alles geliebte Frau war in der öffentlichen Wahrnehmung äußerst spröde und das musikalische Gewicht ihres Inputs bei den Wings zumindest fragwürdig. Sie allerdings als 'arrogant-doofe Schnalle' oder gar als unmusikalischen 'Appendix vermiformis' (zu dt.: Wurmfortsatz/Blinddarm) der Wings darzustellen, war mehr als nur Dummheit - es war schlichtweg eine unverzeihliche Unverschämtheit, für die sich so mancher Schmierfink noch heute schämen sollte!! Hier wurde nämlich in gelegentlich ehrverletzender Weise unterschlagen, dass Linda McCartney die meisten Songs der Wings mitkomponiert und -produziert hatte.
Damit das klar ist: Ich mochte die Beatles in meinen Jugendtagen nicht. ["Revolver" & Co. lernte ich erst sehr viel später schätzen.] Aber ich mochte die Wings... weil sie es verstanden, unglaublich eingängige Melodien in ein relativ anspruchsvolles Rockgewand zu kleiden. Und unzählige Musikfreunde liebten sie ebenfalls, was diese sagenhafte zweijährige, geradezu legendäre 'Wings Over The World'-Tour belegte, die mit dem Triple-Album "Wings Over Amercia" der Musikgeschichte einen Megaseller und obendrein davor und danach noch zahlreiche Welthits hinterließ!
Der Empfang für die Wings in den US war phänomenal, was seinerzeit alles andere als selbstverständlich war. Das fälschlicherweise aus Zusammenhängen gerissene Zitat »Die Beatles sind größer als Jesus...« führte damals zu extremsten Reaktionen fundamentalistischer Christen, vor allem und gerade in den USA. Aber dieser sicherlich im jugendlichen Leichtsinn formulierte Satz kam bekanntlich John Lennon über die Lippen - Paul McCartney konnte auch hier von seiner Rolle als Sunnyboy der Beatles profitieren. Seit Benedikt XVI. vor einigen Jahren höchstpersönlich die Absolution für diese 'Blasphemie' erteilt hatte, kann man dieser Anekdote allenfalls noch historische Bedeutung beimessen. Gut, daran war damals - anno 1975/76 - noch nicht im Geringsten zu denken, deshalb war der angesprochene, triumphale Empfang auch so bemerkenswert.
"Rockshow", die vorliegende Blu-ray/DVD-Veröffentlichung aus dem Hause Eagle Rock, bietet nun diese gesamte, 28 Tracks umfassende Setliste von "Wings Over Amercia" erstmals in ungekürzter Form für das 'Pantoffelkino'. Die originalen 35mm-Bänder wurden dazu runderneuert und der Sound zeitgemäß remastert, nun endlich auch mit einem 5.1-Mix. Selbstverständlich ist aufgrund der Ursprungstechnik die Bildqualität immer noch etwas 'grisselig', aber schließlich handelt es sich ja hier um eine (überaus vergnügliche) Zeitreise - die Tonqualität ist hingegen superb!
Aufgezeichnet wurde seinerzeit die gut zweistündige Show im riesigen Kingdome von Seattle, der letzten Station auf US-Boden - in voller Länge, inklusive zweier Zugaben. Als Bonusmaterial ist eine etwa zehnminütige Tour-Doku zu sehen, wobei das Wort 'Dokumentation' hier etwas zu hoch gegriffen scheint. Es handelt sich vielmehr um unkommentiertes Filmmaterial, das im Rahmen der 'Wings Over The World'-Tour aufgezeichnet wurde und das Ehepaar McCartney samt seiner Truppe bestens gelaunt abseits der Bühne zeigt.
Und auch das machte den Reiz der Wings aus: Diese 'Truppe' war eben wesentlich mehr als eine schlichte Begleitband des Beatles-Paule, sondern bestand aus eigenständigen, schwergewichtigen Musikern, die allesamt bereits ihre Sporen verdient hatten. Der zwei Jahre später an einer Überdosis Heroin verstorbene Gitarrist Jimmy McCulloch bei Stone The Crow und Whistle Rymes, der Multiinstrumentalist Denny Laine bei den Moody Blues - der hochtalentierte Drummer Joe English wurde wenig später bei Sea Level eine ganz große Nummer. Einzig Linda McCartney war in dieser Hinsicht ein unbeschriebenes Blatt. Es war fraglos die stärkste Besetzung in der Historie der Wings, die von 1971 bis 1982 andauerte.
Der Konzertmitschnitt ist folglich wirklich der Überhammer! In den gut zwei Stunden brennen die Wings eine wahrhaft überirdische "Rock Show" ab, eher eine der interstellaren Art als von "Venus And Mars" übertragen. Dramaturgisch wird das absolut geschickt aufgeteilt: Das erste Drittel pusht das Publikum, im zweiten wird mit einem akustischen Block (Piano, Akustikgitarren, Percussion) das Tempo - vorwiegend mit Beatles-Songs - herausgenommen, um dann im letzten Teil noch einmal die Stimmung ins Explosive zu steigern. Clever gemacht!
Der Start mit einem Medley aus "Venus And Mars", "Rock Sow" und "Jet" ist wie immer sensationell. Wie süß ist das denn: Wabernde Trockeneisnebel und 'bubbelnde' Seifenblasen waren damals noch ein echter Hingucker. Auch im Folgenden rocken die Wings die Bühne wie wildgewordene Wildsäue. Sympathisch dabei: Zu keinem Zeitpunkt lässt Paule den Superstar raushängen - da steht eine echte Band auf der Bühne!! Die Gitarristen McCulloch und Laine dürfen auch mal als Sänger im Mittelpunkt stehen und dies jedesmal restlos überzeugend: McCulloch sehr 'sauber' beim gnadenlosen Abrocker "Medicine Jar" - Laine ziemlich 'versoffen' gegen Ende mit "Go Now" und "Time To Hide". Gerade letzter verbreitet als wild über die Bühne hüpfender Spaßvogel jede Menge guter Laune und imponiert als Multiinstrumentalist, der nahezu bei jedem Song sein Arbeitsgerät wechselt. Das coole "Maybe I'm Amazed" wurde samt der B-Seite "Soily" - später als letzte Zugabe gebracht - tatsächlich als Single ausgekoppelt. Jawollja, so was gab's tatsächlich in den verrückten Siebzigern...
Beeindruckend ist auch, welche stilistische Bandbreite die Wings draufhaben - eben nicht nur immer Balladen, wie ihnen von Kritikern gerne vorgeworfen wurde. Alles dabei: Vom harten Rock mit leicht 'proggigen' Bezügen über schnelle Boogies, bluesig Inspiriertem und, vor allem wenn die vier Mann starke Horn Section eingreift, lässt sich eine ganze Menge Soul nicht verbergen.
Nach dem pompösen "Live And Let Die" folgt ein breiter akustischer Block, darunter auch das von Laine gesungene Simon And Garfunkel-Cover "Richard Cory". Eine gute Gelegenheit nach der schweißtreibenden Eröffnung mal Luft zu holen. Von den akustisch interpretierten Beatles-Songs schießt das eher unbekannte, als Country-Stampfer vorgetragene "I've Just Seen A Face" (von der "Help!") den Vogel ab.
Mit dem Boogie "Magneto And Titanium Man" kommt langsam wieder Zug in die Chose... und wie: Nun wird ein wahres Feuerwerk von Wings-Superhits abgefackelt. "Listen To What The Man Said", "Let 'em In", "Silly Love Songs", "Letting Go" - kein Gassenhauer wird ausgelassen, bevor DER Klassiker schlechthin - das gigantische "Band On The Run" - den 'offiziellen' Teil beendet.
Unter dem ohrenbetäubenden Jubel des riesigen Auditoriums werden die neun Musiker für zwei Zugaben zurückgeholt. Mit "Hi Hi Hi" wird fröhlich-simpel abgerock'n'rollt, bei "Soily", einer der unterschätzten Heldentaten der Wings, wird's dagegen fast schon psychedelisch - ein perfekter Abschluss dieser Blu-ray/DVD-Veröffentlichung.
Nun zur Gretchenfrage: Und, war sie? War Linda McCartney der 'unmusikalische Blinddarm' der Wings?? Nein, keinesfalls war sie nur 'die Frau von' und damit ein Fremdkörper - sie war offensichtlich bestens in der hervorragend interagierenden Band vernetzt. Natürlich dürfen keine Glanztaten von ihr erwartet werden und die Keyboard-Burg wirkt angesichts ihrer begrenzten Möglichkeiten vielleicht etwas überdimensioniert. Aber garantiert war Linda McCartney - wie schon Eingangs ausgeführt - mehr als das 'blonde Dummchen am rechten Bühnenrand', auf das sie so mancher Journalist reduzieren wollte!!
Die erstmals 1981, damals noch in verkürzter Form erschienene "Rockshow" bietet das einzige visuelle Dokument der Wings, obendrein in voller "Wings Over America"-Länge. Allein diese Tatsache sollte Kaufanreiz genug sein. Die mir vorliegende DVD-Edition kommt zudem mit einem eingehefteten Booklet (Liner Notes vom BBC-Moderator Paul Gambaccini) und daher im wunderschönen Outfit eines kleinen Buches in den Handel. Ein echter Hingucker und künftiger Klassiker!!
Line-up:
Paul McCartney (vocals, bass, Steinway Grand Piano, acoustic guitars)
Linda McCartney (keyboards, background vocals)
Denny Laine (electric/acoustic guitars, vocals, Hammond, keyboards, bass, harp)
Jimmy McCulloch (electric/acoustic guitars, vocals, bass)
Joe English (drums, background vocals)
Horn Section:
Howey Casey (saxophone, flute)
Tony Dorsey (trombone)
Steve Howard (trumpet, flugelhorn)
Thaddeus Richard (saxophone, clarinet, flute)
Tracklist |
Konzert (129:37):
01:Venus And Mars / Rock Show / Jet
02:Let Me Roll It
03:Spirits Of Ancient Egypt
04:Medicine Jar
05:Maybe I'm Amazed
06:Call Me Back Again
07:Lady Madonna
08:The Long And Winding Road
09:Live And Let Die
10:Picasso's Last Words
11:Richard Cory
12:Bluebird
13:I've Just Seen A Face
14:Blackbird
15:Yesterday
16:You Gave Me The Answer
17:Magneto And Titanium Man
18:Go Now
19:My Love
20:Listen To What The Man Said
21:Let 'em In
22:Time To Hide
23:Silly Love Songs
24:Beware My Love
25:Letting Go
26:Band On The Run
27:Hi Hi Hi
28:Soily
Bonusmaterial:
Doku - A Very Lovely Party (10:08)
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Externe Links:
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