Newcomer TV - Alternative Hüte
Zwischenruf

Aus der Schlaflosigkeit in die Sprachlosigkeit
Liebe Leser, leidet noch jemand von euch unter dem Zustand der Schlaflosigkeit? Ich meine nicht die senile Bettflucht der langsam aber sicher alternden Generation der 'Summer of Love'-Hippies, der ewig jungen Alt-68er und der Möchtegern-Peter Fonda-Easy Riders, sondern eher die traditionelle Insomnie. Wenn man dann so ein Glückskind ist und sonntags nach Mitternacht noch nicht einschlafen kann, darf man fantastische Sendungen im Fernsehen bewundern.
So zum Beispiel den altehrwürdigen, immer noch guten 'Rockpalast', der sein traumwandlerisches Dasein - von den Programmdirektoren noch geduldet - um diese Zeit fristen darf.
Aber eine andere Sendung danach hat mein Interesse geweckt, in der es um junge, talentierte Nachwuchscombos gehen sollte und originellerweise unter dem Titel 'Newcomer' läuft. Sie wird für den 'Hessischen Rundfunk' produziert, montags im 'HR'-Fernsehen am späten Abend ausgestrahlt und im 'WDR' zur allerbesten Sendezeit wiederholt, nach dem bombensicheren 'Rockpalast' eben.
Als ich die Sendung am 6. Februar zum ersten mal sah, war ich etwas erschrocken. Dort ging es um zwei Bands, die mehr oder weniger in die heutzutage besonders gehypte Kategorie der 'punkigen Alternativ-Popbands' einzuordnen sind. Oder waren es 'alternativ-poppige Punkbands'? Wie auch immer, eine hatte den treffsicheren Namen AK4711, wobei es nicht ganz klar ist, ob die 4 weiblichen Mitglieder der Band Enkelinnen von Michail Kalaschnikow sind oder ob der Name nur einer sorglosen 'Warschauer Pakt-Ostalgie' geschuldet ist. Jedenfalls scheinen sie Punk-Pop mit deutschen Texten zu spielen, der irgendwo zwischen Sozialkritik und infantilen Liebesliedchen pendelt. Die andere Gruppe, Verlen, macht Gitarrengeschrammel der eher politfreien Sorte, deren Selbstbezeichnung lautet: 'Indie/Alternative/Grunge'. Als Krönung des Ganzen gibt es diesen allseits bekannten, unerträglich klagenden Gesang. Na, Gute Nacht? Hätte ich doch lieber die Schlaftabletten eingenommen!
Nächste Woche um diese Zeit fand ich schon wieder keinen Schlaf, also ließ ich Gnade walten und gab den 'Neuankömmlingen' eine zweite Chance. Vielleicht sind sie inzwischen aus ihrem selbst auferlegten alternativen Wachkoma erwacht? Falsch gedacht, der Albtraum setzte sich weiter fort. Die Sendung präsentierte uns als einen der weiteren 'Hoffnungsträger' Bionic Brit (deren CD die Kollegin Ilka besprochen hat), die zur Abwechslung wie ein Hybrid aus AK4711 und Verlen klangen, was sogar den Mix von deutschen und englischen Strophen in einem Song betrifft! Die Enttäuschung über den Pop - 'alternativ' brauche ich nicht mehr zu erwähnen - der dänischen Formation The Alpine hielt sich noch einigermaßen in Grenzen, da die Hemmschwelle durch Bionic Brit schon extrem niedrig herabgesetzt wurde. Als dritte Gruppe in dieser Folge von 'Newcomer' kam die Schülerband Drone aus Hessen dran, deren Stil man laut eigener Homepage der "Kategorie Alternative unterordnen kann". Die durften dann auch noch im Interview über meine Lieblingscombo Tokio Hotel herziehen. Na, gute Nacht, ich habe fertig!
Als es wieder Tag wurde, habe ich mich drangemacht, herauszufinden, nach welcher Philosophie 'Newcomer TV' konzipiert wird. Nichts ist einfacher im Internet-Zeitalter, ruck-zuck ist die Seite im WWW gefunden. Sie ist sauber und übersichtlich gestaltet, so dass ich unter dem Menüpunkt 'über uns' schnell fündig wurde: "Der Schwerpunkt der Sendung liegt in der Präsentation neuer Talente, wobei wir musikalisch völlig offen sind." Alle Achtung, das wäre natürlich zu begrüßen. Im nächsten Satz wird es erst dramatisch: "Unsere Zielgruppe ist die alternative Jugend-Szene, also 'tausende' von 'Nachwuchs' Bands/Talente und ihre Fans (15-30 Jahre)." Wie jetzt, was jetzt!? Man erhält zunächst den Eindruck, bei den Machern von 'Newcomer' handele es sich um Musik-Kosmopoliten. Dann macht man einen dreifachen Salto rückwärts und verkündet, nur eine bestimmte Subkultur zu fördern. Nun aber zurück zur Sendung, denn da gibt es noch einiges zu erzählen.
Die äußerst kompetente und in der Geschichte der Rockmusik hervorragend bewanderte Moderatorin Raffaela Jungbauer stolpert und schlafwandelt durch die Sendung. Sie findet es z. B. seltsam, dass jemand als Linkshänder Gitarre spielt. Ach, wie süüüß! Es kann schon mal aufgrund spätpubertärer Ignoranz vorkommen, dass jemand im zarten Alter von 23 noch nichts von Jimi Hendrix, Paul McCartney, Tony Iommi, Albert King - um nur einige zu nennen - gehört hat. Aber dass sie als Verehrerin des Alternativ-Krachs die mit (zwei?) linken Händen ausgestatteten Ikonen dieser Musikrichtung - Kurt Cobain und Billy Corgan - außer acht lässt, ist schon merkwürdig. Setzen, Note 6 Frau Jungbauer, dies reicht nicht einmal für die erste Klasse der Rock-Grundschule. Na, Gute Nacht 'Newcomer'!
Ich hätte mir gedacht, bei den 'Öffentlich-Rechtlichen' wird noch richtig gearbeitet und nicht nur Volksverdummung betrieben! Wofür hat man eine Redaktion? Oder steht die Selbstdarstellung im Vordergrund? Nach dem Motto, es ist überhaupt nicht wichtig, was ich sage, sondern wie ich es sage: Hauptsache, alles klingt trendy, hip und obercool. So fasst die Moderatorin auch die Interviewpartner an. Vor einem Konzert werden nicht Fragen gestellt, sondern es werden eher gemütlich die befreundeten Musiker begrüßt und ein wenig geplaudert. Zitat frei aus dem Gedächtnis, Anmerkung Frau Jungbauer: "Wie ich gehört habe, soll es drinnen voll sein". Antwort des Musikers: "Cool, wir freuen uns". Das nenne ich Journalismus. Tiefgründig wie ein Haus ohne Fundament. So ein Plappermaul mit Hang zu Alternativ-Punk-Pop gab es schon mal bei 'Viva': Sie hieß Charlotte Roche und moderierte die Sendung "Fast Forward" für "Junggebliebene Alte und altgebliebene Junge". Ja, sie war wenigstens geistreich!
Um auf die Internetpräsenz von 'Newcomer TV' zurückzukommen: Dort gibt es eine geistreiche Stilvielfalt unter dem Menüpunkt 'bands', wo mehrere hundert 'Talente' vorgestellt werden. Beispiele für die Schubladen:" sofarock, Melodic-in-your-face-Punk rock, alternative Rock meets pop with grunge roots". Alles klar? Zu meinem Erstaunen findet man auch Bands, die ihre musikalische Richtung so bezeichnen: 'Modern Blues Power', 'Progressive', 'Hardrock im stil ac/dc und Motörhead'. Ja, wie erfreulich, dass doch noch 'alternativlose' Bands ihren Weg in diese Datenbank gefunden haben.
Das heißt aber noch längst nicht, dass sie je die Chance erhalten werden, bei 'Newcomer TV' ihr Können unter Beweis zu stellen. Dafür haben nicht wenige Bands seit dem Start der Sendung in 2002 mehr als einmal die Gelegenheit gehabt, sich zu präsentieren. Manche, wie die bereits erwähnten Verlen und AK4711, jeweils vier- bzw. fünfmal. Wenn man die verschiedenen Wiederholungen hinzuzählt, kommt man locker auf eine beachtliche zweistellige Zahl. Damit könnte man AK7411 den Orden 'Am besten geförderte ewige Newcomer' verleihen. So sieht Kulturpolitik in Deutschland aus! Dass der ungarische Kultusminister Bozóki vergangenen Sommer in einem T-Shirt mit der Aufschrift 'Punks Not Dead' auf allen möglichen Open-Airs herumirrte und ein entsprechend ausgerichtetes Rockmusik-Förderprogramm auflegte, ist eine Geschichte für sich.
Irgendwie scheinen aus dem Rock-Bereich in der heutigen Zeit nur noch Bands mit einer gewissen Punk- bzw. Alternativ-(Pl)At(t)itüde die Möglichkeit zum kommerziellen Durchbruch zu haben. Auch hier gilt: Die wenigen Ausnahmen bestätigen die Regel. Wie bewiesen, tragen zu dieser Misere leider nicht nur die unablässig arbeitenden Verblödungsmaschinerien wie 'MTV', 'Viva' oder der 'Rolling Stone' bei, sondern auch eine Nischensendung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, die immerhin in der Lage ist, etwa sechzigtausend Zuschauer zu musikalischen Dünnbrettbohrern zu erziehen. Na, Gute Nacht 'Rockmusik'!
Ich weiß, die meisten werden sagen: "It's Only Music", warum regt sich dieser Wolfart auf? Wenigstens gibt es noch solche Sendungen über junge Bands. Aber wie es eine längst vergessene Band formulierte:
"Don't Miss The Message"!
Oder hätte ich mich vor zwei Wochen im Bett hin- und herwälzen und auf diese Weise versuchen sollen, der Schlaflosigkeit zu entkommen? Wer weiß. Zu guter Letzt hätte ich noch einen Vorschlag für die Umbenennung von 'Newcomer TV'; diese Idee muss ich eines Nachts in der REM-Phase geträumt haben: "Schlaflos in Seattle". Na, Gute Nacht!


Janos Wolfart, 22.02.2006
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