Wie wäre es mit etwas Respekt?
Zwischenruf


Zwischenruf vom 06.10.2010


Steve Braun
Gerade aus dem Urlaub zurück, bin ich über einen Eintrag in unserem Gästebuch gestolpert, der mich richtig glücklich gemacht und meinen Glauben an die Musikfans wieder ein wenig aufgerichtet hat. Karin schreibt: »Als 'Neuling' auf eurer Seite heute nur Lob: informativ, übersichtlich und gut verlinkt. Über Musik(geschmack) kann man ja bekanntlich nicht streiten und jedermanns Ohr findet andere Töne genial oder abstoßend - daher umso interessanter, wenn man h*****e Kritik an einer Band, die man selbst gern hört, vernimmt oder Lob für Töne liest, für die man selbst lieber taub wäre... Klasse sind die Links zu den Bands/Musikern - eure Beiträge vielleicht etwas zu lang und die Hinweise auf Konzerte einfach nur gut. Macht weiter so... «
Ich meine jetzt nicht das Lob für RockTimes, was natürlich sehr nett (und völlig berechtigt) ist. Nein, hier offenbart eine Leserin unseres Magazins Fähigkeiten, die den meisten Musikfans über die langen Jahren abhanden gekommen zu sein scheinen: Respekt, Toleranz und Empathie! Nun ist die allgemeine Respektlosigkeit eines jener Krebsgeschwulste, die unsere Gesellschaft von innen heraus zerstören. Ich meine jetzt mal nicht die Gedankengänge der vielen kleinen Sarrazins und der lautstark aufheulenden Islamisten, die x-te Hartz IV-Debatte und schon gar nicht den Respekt vor Amts- und Würdenträgern. Ich meine die Hinwendung im zwischenmenschlichen Bereich, das Zuhören und Verstehen wollen. Darin äußert sich die Achtung vor der Meinung des Gegenübers und der daraus zwingend folgende Satz muss nicht einmal ausgesprochen werden: "Ich teile Deine Meinung zwar überhaupt nicht, aber ich respektiere selbstverständlich Deine Aussage, eben weil ich Dich als MENSCH respektiere."
Die Gründe für diesen wohl kaum mehr aufzuhaltenden Prozess sind vielfältiger Natur und würden den Rahmen eines Zwischenrufs gewaltig sprengen. Unstreitig ist allerdings, dass gerade die neuen Medien die grassierende Respektlosigkeit befeuern. Nehmen wir nur einmal das Internet. Diese Kommunikationsform hat nicht nur eine neue Sprache kreiert, sondern auch die Gesprächsebenen verändert. Wenn die Tastatur ein 'Du blöder Arsch' ausspuckt und dem 'Gesprächspartner' auf dessen Monitor entgegen springt, geschieht dies in einem virtuellen Raum und auch die Folgen einer solchen Aussage verlassen diesen nicht. Man riskiert keine saftige Ohrfeige und wütende E-Mail-Reaktionen werden einfach gelöscht und versinken in den unendlichen Weiten des Internets. So weit - so bekannt...
Nun sind - so resümiert jedenfalls meine Lebenserfahrung - Musikfreunde extrem schwierige Gesprächspartner. [RockTimes-Kollegen sind da natürlich (augenzwinkernderweise) ausdrücklich NICHT angesprochen!] Wer jahrzehntelang aufmerksam Musik gehört hat, verfügt naturgemäß über ein beachtliches Detailwissen. Die biochemischen Vorgänge, die das Musikhören zu individuellen Prozessen machen, werden in Gesprächen über Musik viel zu häufig ausgeblendet und so lauten die Kernbotschaften oft: "Ich höre das so - also IST das so!" Längst habe ich es mir abgewöhnt, mich an scheinbar in Stein gemeißelten Rechthabereien wortreich zu reiben. Wenn das virtuelle Gegenüber nicht zuhören, verstehen und respektieren kann bzw. will, kann es einem gestohlen bleiben. So einfach ist das...
Mein Lieblingsbeispiel zu solch wahnsinnig 'wichtigen' Fragen, ob nun dieses oder jenes Album von Hans Wurst besser oder schlechter sei, ist folgendes: Stell' einmal fünf verschiedenen Leuten den selben Wein vor die Nase. Von Beerenaroma, Waldfrüchten, bis hin zu Absonderlichkeiten wie Teer und Pferdeschweiß wird jede Geschmacksrichtung vertreten sein. Und der letzte wird sagen: "Alles Quatsch! Der schmeckt nach garnix!" Weinbewertung ist ebenso ein Sinneseindruck wie Musikhören oder Bilderbetrachten - Geschmackssache! Noch Fragen?
Und weil die Gesprächspartner so konsequent aneinander vorbei kommunizieren, hat dies zu einer Agonie der Musikforen im Internet geführt. Welcher halbwegs vernünftige Musikfreund meiner Altersgruppe beteiligt sich heutzutage noch lebhaft in einem entsprechenden Internetforum? Selbstgespräche kann man auch auf der Toilette oder im Auto führen, ohne dabei wertvolle Zeit zu verschwenden. Umso schöner, wenn man dann über einen derart unerwarteten Gästebucheintrag stolpert.
Wie schön, dass wir RockTimer noch miteinander reden und gelegentlich auch streiten. In wenigen Tagen ist wieder Redaktionstreffen. Ob ich allerdings über 'meine' Musik reden werde, das möchte ich gerne offen lassen...