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Aëdon / Leaves Turning Red – CD-Review

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Das Ruhrgebiet ist meine Heimat.

Gewöhnlich glaube ich, dass ich mich dort auskenne, auch wenn ich ganz weit am westlichen Rand zuhause bin. Doch vor Überraschungen ist kein Mensch gefeit! Die künstlerisch wohlklingende, aber immer auch ein Stück weit nachdenklich reflektierende Seite unserer ansonsten eher charmant rauen Umgebung vermittelt mir in diesen Frühlingstagen, die so gar nicht frühlingshaft werden wollen, ganz unvermittelt eine Gruppe junger Musiker, die aus allen Winkeln unseres eng umrissenen Schmelztiegels zu einem interessanten Experiment aufgebrochen sind, progressive Musik in die restlichen Winkel der Welt zu senden.

Den modernen Prog Rock wird dabei auch das stets weltoffene Ruhrgebiet nicht neu erfinden können und so begibt sich jeder, der den Spuren der jungen Band Aëdon folgt, in ein Fahrwasser des leicht alternativen Neo Prog, der hier in meiner heimischen Umgebung aufbricht zu manch tiefsinniger Melodik voller Melancholie und feingeistiger Romantik, aber eben auch zu der einen oder anderen Reminiszenz an bekannte Vertreter dieses Genres.

Dass uns auf dieser Reise die Geister bekannter und sehr willkommener Akteure über den Weg laufen werden, sollte daher nicht überraschen und sehr zur Freude nehme ich diverse Verwandtschaft mit den wirklich Stil prägenden Riverside zur Kenntnis, vielleicht folgen im Schlepptau sogar deren polnische Landsleute Satellite. Aufgrund der melodischen Gitarren-Einlagen mögen solche Vergleiche durchaus Sinn machen. Im Grunde aber kann man es auf die Formel bringen, dass Aëdon es schaffen, eine sehr stimmige und in sich geschlossene Atmosphäre auf Ihrer EP zu kreieren, die auf mich fast wie ein Präsentierteller mit Appetit anregenden Häppchen wirkt. Kompakte, komprimierte Nummern konzentrieren sich auf das Wesentliche und vermeiden allzu gewagte Experimente, hier wünscht sich der Prog-begeisterte Fan gerne ein paar ausufernde Exzesse, das Potenzial für solistische Power wird in den knapp bemessenen Solo-Ausritten jederzeit deutlich und die wunderschön lautmalende Gitarre von Max Krüger zelebriert verlockend, was sonst noch alles möglich sein könnte. Sehr angenehm korreliert damit die Stimme von Simon Gatzka mit einer eigenartig zurückhaltenden, melancholischen Emotionalität. Der Junge stammt aus meiner Heimatstadt Duisburg und scheint noch dazu eine Art stimmliche Verwandtschaft mit eben jenem Mariusz Duda der großartigen Riverside zu pflegen. Der gesangliche Duktus passt auf jeden Fall in diesen Themenkreis. Dass wir Harmonien und Querverweise zu Porcupine Tree finden, einer Band, die für viele andere progressive Musiker als eine Art Vorbild gedient hat, passt ausgezeichnet in diesen Gesamteindruck.

Der Pianoauftakt im Opener "Dried Out Streams" klingt fasst ein wenig wie Transatlantics "Bridge Across Forever". Sensibler Gesang, eine getragene Gitarre kontrastiert mit sanften Riffs, ein schönes Break in dezente Akustikgitarren und verträumten Gesang, das alles bieten uns die ersten Minuten, nur um in wilden Breaks zum Ausgangspunkt zurückzukehren, Soli von Piano und Gitarre dezent gegeneinander gesetzt.
Die Bausteine der Songs insgesamt sind ähnlich, schöne Tempowechsel mit stets zurückhaltend-adaptierendem Groove und klaren, zurückgenommenen Gitarren und Keyboards wechseln mit Riff-orientierten, aber nie krawalligen Passagen, die eloquent zusammengehalten werden von einfühlsamem Gesang und elegant elegischer Gitarre.
Dass die atmosphärische Amplitude in einem eher überschaubaren Ausmaß ausschwingt, liegt dabei ein Stück weit in der Natur der Sache, für wildere Ausritte sind die einzelnen Songs einfach zu komprimiert und untereinander zu artverwandt.
Wer weiß, wohin es Aëdon treibt, wenn die Band sich erst einmal mit episch längeren Werken auseinandersetzt. Genau das hat sie übrigens im Begleitmaterial angekündigt und ich bin mir sicher, dass genau darin ihr größtes Potential liegen wird.

Dass wir in "Leaves Are Turning Red" zu Beginn ein wenig von dem unvergleichlichen Arena-Song "Friday’s Dream" zu erfühlen scheinen, erfüllt mich ganz besonders mit Freude, ist das doch einer meiner meist gehörten Prog-Songs aus der Zeit des Jahrtausendwechsels. Das Gitarrensolo verzaubert dann aber in eine gänzlich andere Richtung, eine Art Hochgefühl ohne jedes falsche Pathos und allzu bald entlässt uns ein sphärischer Ausklang.

Interessant zu erwähnen ist sicher die Tatsache, dass die meisten Bandmitglieder eher in den Kindertagen ihrer eigenen Musiker-Karriere stecken, abgesehen vom Bochumer Gitarristen Max Krüger. Der Bandname generiert sich aus einer griechischen Sagengestalt, die wohl aus Reue über einen Mord die Götter anfleht, ihr die menschliche Gestalt zu nehmen und siehe da, Zeus verwandelt sie in eine Nachtigall. Ich würde mich ungebührlich brüsten, wenn ich behaupten würde, das gewusst zu haben. Nein, ist alles nachgelesen, der Beschreibung des Promoters sei gedankt.
Verständlich wird mir dadurch allemal, dass angesichts einer solch dramatischen und tragischen Heldin, die zur Namenspatin auserkoren wurde, auch die Musik einen gewissen dramatischen Touch vermittelt. Die melancholische Wirkung der Musik wurde ja schon angesprochen und die Songtexte, die gehen teilweise ganz mächtig unter die Haut und Verlust, Schmerz und Tod scheinen zentrale Themen im Werk von Aëdon abzubilden – erstaunlich für solch junge Menschen. Aber die stimmige Kongruenz zwischen Musik und Texten bildet ein bemerkenswertes Herausstellungsmerkmal der Scheibe.

Aëdon haben mit ihrer EP ein Fass aufgemacht – aber eben ganz anders, als man das hierzulande verstehen möchte. Nein, sie haben ein Feld erschlossen, auf dem in Zukunft eine große und fruchtbare Ernte möglich ist. Die fünf Jungs aus dem Ruhrgebiet zeigen, was sie können und zu welchen Ausschweifungen sie fähig sind. Alles, was wir uns nun wünschen können, ist ein Durchstarten mit all ihren Fähigkeiten, Ideen und Ambitionen. Lasst den Prog und Rock von der Leine und gebt uns mehr von diesem Nektar, der Auftakt schmeckt durchaus verlockend und macht Bock auf mehr und Längeres!

Da freut sich der ethnische Eingeborene aus dem Ruhrpott!


Line-up Aëdon:

Simon Gatzka (vocals, guitar)
Max Krüger (guitar, backing vocals)
Tobias Jung (bass)
Daniel Breiderhoff (keys)
René Ehrenberger (drums)

Tracklist "Leaves Turning Red":

  1. Dried Out Streams
  2. Change This World
  3. The Road
  4. Make It Right
  5. Leaves Are Turning Red

Gesamtspielzeit: 24:32, Erscheinungsjahr: 2017

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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1 Kommentar

  1. wespress/Thomas Westerdorf

    Hallo Michael,

    herzlichen Dank für das tolle Aëdon-Review!!!

    Schöne Grüße aus der Heimat
    Thomas Westerdorf

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