Die Band Agitation Free wurde 1967 in Berlin gegründet und entwickelte sich in der Hochzeit des – ja, jetzt haben wir wieder diese von vielen deutschen Bands ungeliebte Schublade – Krautrock zu einer der wegweisenden und bedeutendsten experimentellen Combos des Landes. Nach einer vom Goethe-Institut gesponsorten Tour durch Ägypten, Griechenland, Libanon und Zypern trat die Band auch im Kultur-Programm der Olympischen Spiele 1972 in München auf und veröffentlichte im gleichen Jahr ihr Debütalbum "Malesch". 1973 folgte "2nd" und 1976, bereits zwei Jahre nach Auflösung der Band dann noch die Platte "Last", die Songs des Abschiedkonzerts von Ende 1974 enthielt und 2009 inklusive Bonus-Material im Zuge des Comeback-Studioalbums River Of Return nochmal als Fragments veröffentlicht wurde.
Zwischdurch gab es immer mal wieder Reunion-Konzerte, aber es dauerte bis Ende November 2023, dass mit "Momentum" ein neues Studioalbum vorgelegt wurde. Und mit Lutz-Graf Ulbrich (guitars, banjo), dem Schlagzeuger Burghard Rausch sowie dem Tastenmann Michael Hoenig sind hier sogar drei der Musiker beteiligt, die damals schon bei "Malesch" am Start waren. Außerdem sind (bzw. im Fall Lütjens waren) der seit 1973 in der Band agierende und im Oktober 2017 verstorbene Gustl Lütjens (guitars) sowie der Bassist Daniel Cordes (seit 2013) fester Bestandteil dieser neuen Produktion. Sieben Tracks sind es geworden, die – ganz in der Band-Tradition – bis auf einen kurzen Sprech-Gesang zu "Nouveau Son" plus einer Einlage beim Titelsong instrumental daherkommen. Und um es gleich zu Beginn mal festzustellen: "Momentum" hört sich logischerweise zwar anders als die Alben aus den Siebzigern an, geht durch seine Klasse und Kompositionen jedoch eindeutig als Sieger durchs Ziel.
Der Rezensent hat speziell an den von plakativen Gitarren-Melodien dominierten Tracks "Nightwatch" und "Lilac" einen Narren gefressen. Rausch schafft es mit seinen Drums, sowohl einen feinen Groove hinzulegen, als auch funky wie die Hölle zu klingen. Die (hört sich sehr an nach) gedoppelten Gitarren liefern das Haupt-Motiv und unterstützt werden diese Stücke so effektiv wie auch unaufdringlich durch feine Keyboard-Parts. Den Titeltrack umgibt anfangs so ein bißchen der Hauch eines Drum-Computers, was aber möglicherweise auch an den dominierenden Keyboard-Grooves liegt, die diesen sehr atmosphärischen und melancholischen Song dominieren, in dessen Verlauf auch orientalische Einflüsse ihr Stelldichein geben. Hier kommt dann auch sehr passend wortloser Gesang von Gustl Lütjens dazu. Sehr stake Nummer! Bereits zu Beginn der Scheibe hatten das bereits erwähnte "Nouveau Son" sowie "Levant" überzeugt.
Nach den abschließenden "Shibuya" (Studio-Version) sowie "Indajungle" zog es den Rezensenten – speziell bei den ersten Durchläufen – immer wieder in Richtung Repeat-Taste, da auf "Momentum" so dermaßen viele Ideen und Feinheiten vorhanden sind, dass man sie gar nicht alle auf einmal erfassen kann. Selbstverständlich bleibt es dabei, dass Agitation Free keinesfalls eine Band für Jedermann/-frau ist und Fahrstuhl-Musik-Hörer sich bereits nach wenigen Sekunden verabschieden werden. Wer die Band bisher mochte und auf qualitativ hochwertige, progressive, experimentelle und anspruchsvolle Mucke steht, der ist bei Agitation Free und "Momentum" jedoch genau an der richtigen Stelle.
Line-up Agitation Free:
Daniel Cordes (bass, synthesizer)
Lutz Graf-Ulbrich (electric & acoustic guitars, banjo)
Michael Hoenig (keyboards, synthesizer, electronic percussion)
Gustl Lütjens (electric & acoustic guitars, vocals)
Burghard Rausch (drums, electronic percussion)
With:
Benjamin Schwenen (guitar – #1)
Peter Michael Hamel (santur – #2)
Pierre Lattes (spoken word from 'Rock en Stock', 1973 – #1)
Tracklist "Momentum":
- Nouveau Son
- Levant
- Nightwatch
- Lilac
- Momentum
- Shibuya
- Indajungle
Gesamtspielzeit: 56:19, Erscheinungsjahr: 2023
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