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Alcantara / Solitaire – CD-Review

Alcantara / Solitaire

Italien zum Dritten. Auch dieses Album kam über die Alpen zu mir und hatte im Vergleich zu den zuletzt besprochenen Werken mit Abstand den längsten Weg zurückzulegen, denn Alcantara kommen aus Catania, Sizilien, und der Name leitet sich ab von einem der größten Naturwunder Siziliens, dem Fluss Alcantara und seinen überwältigend schönen Schluchten. 1984 war ich mit Freunden in Catania am Fuß des Ätna, angereist aus der Bucht von Neapel und Pompeji. Warum ich das erwähne? Es ist so etwas wie ein Brückenschlag, der sich in der Musik von Alcantara wiederfindet, denn niemand anderes als Pink Floyd haben der antiken Stadt in der Welt der Rockmusik ein Denkmal gesetzt – und niemand anderes als Pink Floyd sind die offensichtlichen Impulsgeber in den Hinterköpfen unserer jungen Insulaner. Dark Side Of The Moon wird uns auf dieser Reise gelegentlich vertraut erscheinen und wenn die Kinder im Hintergrund singen, dann kann man seine "The Wall"-Erinnerungen nicht unter Kontrolle halten. Yeah, wer sich aus solchen  Wurzeln definiert, der wird ganz sicher mein Freund werden. Und es gibt noch mehr Gemeinsamkeiten, denn hinter der Musik steckt auch eine ganze Menge mehr.

Klangcollagen aus dem täglichen Leben führen in düstere Sounds, sanft dahin treibend mit einem gefühlvollen Piano über den spärlichen, aber sehr eindrucksvollen Keyboards. Darüber eine Stimme, die sich zunächst in der Nähe von David Sylvian bewegt und bei mir wohlige Schauer auslöst. Später verfärbt sich ihr Klang mitunter hin zu Herrn Bono und liefert damit ein Stück weit ein wenig Indie-Feeling, mit dem der reine Prog immer wieder mal aufgebrochen wird. Das wird später der Fall sein, hier in "Freefall" wird die Richtung von dem Moment an bestimmt, wo diese herrlich ausschwärmende Gitarre die Führung übernimmt. Ein bisschen Floyd, ein bisschen Pendragon und der Song vermittelt insgesamt ein wenig von der bitter süßen Stimmung, wie sie einst Marillion auf "Brave" kreiert haben. Und wer Riverside mag, wird hier sicher Freunde finden.
Wir sind nach fünf Minuten mitten drin im progressiven Flow.

"Logan" groovt dann geradewegs hinein in einen Kosmos auf der dunklen Seite des Mondes. Da war doch was am Rockhimmel, damals in 1973. Der Song bewegt sich ein wenig auf sanften Blues-Pfaden und das elektrisierende Break legt aus tiefster Zurückhaltung die Basis für ein repetitives geiles Gitarrensolo, Francescos Saiten-Arbeit ist geprägt von intensiver Melodik und Spannung, trägt den meist dunklen Teint der Musik und führt ihr doch einfühlsame Wärme zu.

Ein bisschen problematisch könnte man die Tatsache empfinden, dass die Songs irgendwie alle im gleichen getragenen Rhythmus daherkommen, man darf dies aber auch dem tatsächlich düsteren Grundthema geschuldet sehen, dem man durchgängig Tribut zollt. Wir haben es mit einem Konzept-Album zu tun. Die nachdenklich schönen Harmonien bieten sowieso genügend Spielraum, seine Gedanken und Gefühle mit der Musik davon fliegen zu lassen.

Zeit für ein bisschen Gänsehaut? Fast zehn Minuten "After The Flood" nehmen sich Zeit und ziehen uns ganz ruhig und langsam in einen Kosmos, erst kaum merklich und ohne jede Percussion, doch dann übernimmt uns eine Gitarre, die wie ein impressionistischer Maler mit Formen und Farben spielt. Mir kommen augenblicklich die Bilder des wahnsinnig schönen Flusslaufs mit dem Bandnamen in den Sinn. Möwen und Meeresrausch beenden den traumhaften Flug und leiten über in Floydsche Gefilde, die wir seit "Echoes" kennen. Abermals darf es die Gitarre zu Ende bringen. Genau diese großartige Mischung aus retrobehafteten Ausflügen mit den Harmonien des Neo-Prog  machen diese Musik aus. Immer wieder mal erinnere mich gerne an Gary Chandler, dem Saiten-Mann von Jadis, der schon sehr lange eine ähnliche Melodik spielt.

"Faith" beginnt sehr schön independent und die Wandlungsfähigkeit von Sergios Stimme wird mir hier besonders bewusst. Vorübergehend eskaliert der Song in einigen Riffs, leitet aber gleich wieder in eine dahin treibende, stillere Passage mit gesprochenem Text im Hintergrund – ein stilistisches Mittel, das immer wieder verwendet wird und auf diese Weise geschickt die gesellschaftspolitischen Botschaften transportiert. Denn die sind nicht so beglückend. Die kölschen Jungs von Monocluster praktizierten dies auch, als sie zum Beispiel eine legendäre Rede von Dwight D. Eisenhower in ihren Song einbrachten, um ihre Haltung zu Amerikas Wirtschafts- und vor allem Rüstungspolitik deutlich zu machen.
»We are, we are the resistance« klingt der verzweifelt emotionale Choral gegen die bedrückenden Auswüchse, die unsere moderne Gesellschaft wie ein Krebsgeschwür wachsen lässt. Widerstand ist die elementare Botschaft von Alcantara, die im kurzen, aber tief bewegenden Folgesong komprimiert wird. "Resistance". Widerstand! Widerstand gegen ein degeneriertes System aus ideologischem Verfall, politischem Versagen und gesellschaftlicher Entzweiung.

"Seasons" klingt dann eher wie ein Resümee, ein ruhiger, reflektierender Song, der sich alle Zeit der Welt lässt, sich zu entwickeln. Ein Stück Traurigkeit schwingt mit an, es sind durchaus dunkle Themen, die unsere Freunde aus Italien während der letzten vierzig Minuten betrachtet haben.
"The Dark Side Of The Moon" ist auch auf Mutter Erde zu finden und ein bisschen in uns allen in diesen alles verändernden Tagen. Verwehren wir uns gegen die Schatten, des Lebens Segen kann nur im Licht liegen und genau so verstehe ich die hinreißend harmonische Gitarre von Francesco Venti. Ein Licht gegen die Dämonen, wo immer sie nach uns trachten.

Alcantara finden in ihrem Debüt eine faszinierende Mischung progressiver Rockmusik, die sich sowohl zu ihren Wurzeln und sicher auch Idolen bekennt, den Sounds der zeitgenössischen Kollegen dennoch aufgeschlossen gegenüber tritt. Ein bisschen Space Rock, oftmals recht verträumt und schöne psychedelische Passagen werden geschickt verwoben und besonders stark wirkt die Band in den balladenhaften Momenten. Eine großartige, einfühlsame Sangesstimme und eine geile und in ihrem Sound so farbenprächtige Gitarre ragen aus dem stimmigen Gesamtkonzept heraus. Verbunden mit den anspruchsvollen und engagierten Texten bekommen wir mit "Solitaire" ein sehr gelungenes Statement von der hinreißenden Insel Sizilien. Solche Musik hatten sie noch nicht, damals in 1984, als ich mal für einen Tag Hallo sagen durfte.


Line-up Alcantara:

Francesco Venti (lead guitar, keyboards)
Sergio Manfredi (vocals)
Salvo di Mauro (Sebastiano Pisasale (bass – #1,2,4-8)
Alessio Basile (drums – #2-7)

guests:
Gionata Colaprisca (percussion – #1)
Alessio Bannò (hammond organ – #2)
Andrea Quarolli (bass – #3)
Saro Figurra (drums-  #1,8)

Tracklist "Solitaire":

  1. Treefingers
  2. Logan
  3. Bad Bones
  4. After The Flood
  5. Solitaire
  6. Faith
  7. The Resistance
  8. Seasons

Gesamtspielzeit: 46:56, Erscheinungsjahr: 2020

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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