Wer bist du, Judy? »I am the End of the Rainbow. The Muddy End. And I rhyme with libel – not scribble« … scherzt sie charmant, wenn sie Besuchern ihre Seite im anerkannten Weltguide der Gesichter aufschlägt. Ist man einmal zu Gast bei Miss Dyble, kann man sich der zauberhaften Aura ihres klingenden, farbenprächtigen, magischen kleinen Reichs schwer entziehen. Der Crystal Tree in ihrem Garten Eden … Songbirds und Birdsongs … Hunde, die verehrten elegantesten und sanftmütigsten Geschöpfe ihrer Art… Uhren, die gehen, manche, die stehen, antik und viel zu geschmackvoll, um sie nicht anzusehen … und noch mehr Blühendes, oder Glänzendes … Vergangenes und Ewiges … entrückte Schönheit, zelebriert in den Augen ihrer faszinierten Betrachterin.
Judy Dyble war das erste gesangliche Leuchtfeuer der legendären Folk Rock-Ikone Fairport Convention, jenen ambitionierten, stilistischen Freigeisten, die 1967 Londons Szene aufbrachen und musikalische Traditionen ihrer keltischen Vorfahren in ein ungemein populäres, zeitgemäßes Gewand hüllten. Der zarte, scheue, aber durchaus entschlossene Teenager-Star mit dem »kristallinen Sopran« (New York Times) sang Fairports Überbegriff "Time Will Show The Wiser" oder das packende Psych-Folk-Inferno "Reno, Nevada" in die Charts, machte mit der Convention Joe Boyds UFO-Club 'unsicher', und verschwand anschließend so geheimnisvoll, wie er erschienen war. Dyble griff ihre berühmte, senkrecht gespielte Autoharp (das Geld für deren Erwerb lieh ihr einst John Peel), verließ Band und Bandmitstreiter Richard Thompson, und eroberte sich neue Perspektiven.
Das ungeahnte Zusammentreffen mit Peter und Michael Giles und Robert Fripp brachte ihren vielleicht größten Hit hervor: "I Talk To The Wind". Judys Arbeit war wiederum getan, King Crimson in die Wiege gelegt, und so galt es, einen neuen Morgen zu entdecken. Das tat die Singer/Songwriterin an der Seite von Them-Keyboarder Jackie McAuley. Trader Horne war als Duo 1970 geboren, "Morning Way" geschrieben, höchst erfolgreich veröffentlicht, und ihre Zusammenarbeit bald beendet. Ein ebenso kurzlebiges Projekt blieb DC And The MB’s' Ausflug in den fabulösen Canterbury-Sound. Verblüffend kreativ, verblüffend inspiriert, erstaunlich komprimiert und treffsicher schrieb sie in den Geschichtsbüchern. Dann verlieh sie sie. Judy wechselte das Terrain hinter den Kulissen, arbeitete als Bibliothekarin, gründete eine Familie und genoss lange Zeit den Windschatten ihrer vollendeten Werke.
Doch die Musik rief sie zurück. Und Fairport Convention rief. Auf einigen Reunion-Events bereits in den 80er Jahren war Judy Dyble wieder das Gesicht und nicht zuletzt die eindrückliche Stimme der großen Band von 1968. Sie sang charakteristisch vollkommen natürlich, »mit klarer Diktion und ohne Affektiertheit« (The Guardian). Die essentielle folk-puristische Qualität ihrer ersten Sängerin geriet über die spätere Besetzung der schillernden Sandy Denny hinaus nie in Vergessenheit und so sprach man Judy Einladungen zu den renommierten Cropredy Festivals aus. Anfangs etwas unsicher, sagte sie zögerlich zu. Die überwältigende Resonanz führte die Londonerin jedoch 1997, 2002, 2007 und 2017 abermals auf die Bühne in Fairports nicht verblassendes Rampenlicht.
Beflügelt von den Live-Erfolgen begann sie, neue Musik zu schreiben. In zahlreichen Kollaborationen, unter anderem mit dem Techno-Scientisten Mark Swordfish von Astralasia entstand von 2004 an bis 2018 eine ganze Reihe von Alben und Kompilationen. Auf "Enchanted Garden" folgten "Spindle" und "The Whorl". 2008 nahm Judy erneut Fairports Stück "One Sure Thing" mit The Conspirators auf und platzierte es zwischenzeitlich hip und nonchalant in den Top Ten der Indie-Charts. "Talking With Strangers" erschien 2009 und formierte nebenbei Judys aus 'Gelegenheitsarbeitern' bestehende Band Of Perfect Strangers. Die 'Fremden' (u. a. Alistair Murphy, Mark Fletcher) stellten ihre Dienste weiterhin für "Flow And Change" und "Earth Is Sleeping" zur Verfügung. "Gathering The Threads" präsentiert 2015 in einer umfangreichen Anthologie klangvolle Fäden exklusiver Dyble-Raritäten. Ebenfalls 2015, anlässlich ihres 45-jährigen Band-Jubiläums, belebten Judy und Jackie McAuley schließlich Trader Horne wieder, bei einer gefeierten Live-Performance ihres gesamten, einzigen Albums "Morning Way" in Londons Bush Hall. Zurück im Studio spielte sie mit dem englischen Produzenten und Musiker Andy Lewis 14 Duette für "Summer Dancing" ein. Einmal mehr live verewigt, kann man Judy im Konzert 2016 auf "Weavings Of A Silver Magic" erleben.
Stoff genug also für ein neues Geschichtsbuch – diesmal ist es Judy Dybles ganz eigenes. In "An Accidental Musician" (2016) erklärt die sympathische, äußerst bescheidene, allseits geschätzte und beschäftigte Künstlerin unterhaltsam das Zusammenspiel bemerkenswert vieler glücklicher musikalischer Zufälligkeiten ihres besonderen Lebens. Tragisch und unbarmherzig bricht dieses irdische Leben nun ab, zufällig? nachdem sie gerade ihr jüngstes Album "Between A Breath And A Breath" gemeinsam mit ihrem befreundeten Kollegen David Longdon fertiggestellt hatte. Es wird im September dieses Jahres zu hören sein. Die melancholische Grundstimmung ihrer letzten Aufnahmen beschreibt sie zuversichtlich: »Quite a few of my lyrics have a touch of sadness about them but always with an optimism for the future and a desire to know what happens next.«
Judy war ein heller Sonnenstrahl … von außergewöhnlicher Menschlichkeit, Wärme und ihrem subtilen, sich selbst nie zu ernst nehmenden Humor… Judy war Porridge am Morgen … war Schokolade bitte sehr … und eine Kreateurin abenteuerlicher Rezepte … sie war London, wie es war, und wie es ist … sie war ein Wohnzimmer voller Musiker und kreativer Hochmomente … sie war das hübsche Mädchen, das im Speakeasy am Bühnenrand strickte, als Richard Thompson mit Jimi Hendrix jammte … sie war die Engelsstimme, wenn sie sang … und war der Engel für Nyx, Betty Blue und Jessie … ihre anbetungswürdigen Greyhound-Damen, denen sie ihr letztes Zuhause gab … sie war der Geburtstagsgruß für völlig Fremde … der Star Tausender Fans … geliebte Mutter von Daniel und Stephanie … Kämpferin über ihre Krankheit hinweg … eine heldenhafte Menschenfreundin … verzaubernde Poetin … progressive Musikerin vieler Genres … stets offen, jedermann und jeder Seele zugewandt, in den hungernden Zeiten, längst nicht nur virenbedingter epidemischer Isolation.
Ruhe in Frieden, Judy … schmerzlich vermisst.
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