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Amplified! / Mental Decay – CD-Review

Amplified! / Mental Decay

Ein Album, dass sich dem eigenen Bekunden nach der Stigmatisierung psychischer Erkrankung entgegenstellt und den Menschen Mut machen möchte, um Hilfe zu bitten, klingt in Zeiten der Pandemie nach einem guten Plan. Es gibt vieles, was uns zurzeit krank machen kann. Wer obendrein ins Feld führt, mit einer exkommunizierten Pfarrersfrau und drei Scheidungen im Nacken ins Studio zu gehen, der scheint womöglich für einen solchen Themenkreis eine Menge persönlicher Erfahrung einbringen zu können. Man dürfte daraus schließen, dass mit Ampliefied!s viertem Album "Mental Decay", geistiger Verfall, recht düstere Musik auf uns wartet. Diese Erwartung wird gleich im Auftakt befriedigt, hier wirkt das hypnotisch kreisende Saitenspiel zwischen Gitarre und Bass im Zusammenspiel mit Jayson Hughes' einprägsam markanten Gesang wie ein sanftes Netz, das einen langsam gefangennimmt. Doch es wartet keine Depressionstour auf uns. Schon "Mental" eröffnet mit einer hymnischen Gitarre, die Anflüge von Wishbone Ash aus den Siebzigern wach werden lässt und deren Licks stark kontrastieren mit der eher eigentümlich monotonen weiblichen Stimme im Line-up – Shawna Hall.

Diese Therapie für die Gesundung des Geistes wird in der Tat keine Etüde in Moll, sondern eine musikalisch sehr kompakte und geradlinige Angelegenheit mit satten Backgrounds, abwechslungsreichem Rhythmusspiel und ausufernden Gitarrenlinien. Da geht durchaus immer wieder mal die Post ab, erstmals so richtig losgelassen in "She".

Ampliefied! stammt aus Ohio, USA, doch die einzige Konstante zum letzten Album "Last Circus", welches meinem Promo-Material gleich mit beiliegt, ist der international bekannte Musikproduzent und hiesige Mastermind Tim Grogean, der ein sehr kompetentes Line-up für das Projekt aufgebaut und bereits eine Tour fürs kommende Jahr durch die Staaten im Petto hat.

Ihre Musik liegt im Bereich Hard Rock und AOR und generiert einen zusätzlichen Reiz durch die beiden wechselnden und gleichberechtigten Lead-Sänger, wobei dem männlichen Gesang eher die aggressiv rauen Nummern zukommen. Shawna hingegen beflügelt die Band zu einigen hinreißenden melodischen Ausflügen, exemplarisch im schön driftenden und fast ein wenig poppigen "Daydream". Solche Momente haben beinahe Ohrwurm-Charakter und könnten auch im Radio gut gespielt werden. Doch darf auch Jayson mit "Stay" einen balladenhaften Song performen. Das klingt sehr gefällig und in diesem Teil des Albums haben wir scheinbar ein wenig die dunkle Seite der Seele verlassen.

Das sanft reflektierende "Head Up In The Clouds" holt uns mit melancholischer Feinheit zurück in eine nachdenkliche Bedrücktheit. Die Melodik ist dennoch warmherzig und sehr präsent, ein echtes Highlight. Doch spätestens mit dem dynamisch kämpferischen "Struggle" wird mir der rote Faden des Albums immer gegenwärtiger, der Dich bewusst rauf und runter zu bringen scheint. Aufs und Abs der menschlichen Seele in musikalischen Metaphern, es macht Sinn, dass die Band ausdrücklich darum bittet, das Album in einem Stück zu hören. Dieses Konzept hat ein gewisses progressives Potential, wenngleich die Komposition dafür zu klar (und ganz sicher auch gewollt) in ausdrücklich rockigen Grenzen und Gefilden bleibt.

Zum Abschluss hin wartet noch einmal ein balladeskes kleines Kunstwerk namens "Winter" auf uns und vermittelt eine irgendwie tröstliche Stimmung, ein Resümee, dass vielleicht Hoffnung verspricht? Der Spannungsbogen durch das ernsthafte Grundthema des Albums und der geschickte Einsatz sowohl einer männlichen als auch einer weiblichen Stimme verleiht der Musik eine zusätzliche, spannende Attitüde.
Die Musiker beherrschen allesamt ihr Handwerk und sorgen damit für eine perfekte Umsetzung des Konzepts. Ampliefied! verstehen es, Stimmungen zu kreieren und damit den Hörer zu packen, das gilt übrigens auch für das Vorgängeralbum mit einer deutlich abweichenden Besetzung. Tim Grogean scheint zu wissen, auf wen er sich verlassen kann.


Line-up Amplified!:

Jayson Hughes (vocals, guitar)
Shawna Hall (vocals, keyboards, piano)
Tim Grogean (bass, guitar, synthesizer)
Jamie Wernsman (drums)
guests
Rich Reuter, Ben Willis, Leif Hall, Sam Hall, Silas Hall (vermutlich backing vocals)

Tracklist "Mental Decay":

  1. Decay
  2. Mental
  3. She
  4. Make It Thru
  5. Daydream
  6. Stay
  7. Head Up In The Clouds
  8. Struggle
  9. Shadow
  10. House Of Rock
  11. Winter

Gesamtspielzeit: 44:07, Erscheinungsjahr: 2021

Über den Autor

Paul Pasternak

Hauptgenres: Psychedelic Rock, Stoner Rock, Blues Rock, Jam Rock, Progressive Rock, Classic Rock, Fusion

Über mich

1 Kommentar

  1. Tim Grogean

    Amplified! is a fan of Rocktimes, thanks so much for the kind words and helping us spread the word on mental wellness and removing the stigma associated with asking for help. Readers are truly up for something totally original and plays well start to finish, enjoy.

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