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Art Of Illusion / Cold War Of Solipsism – CD-Review

In einem Laden namens "Ulla" in Nürnberg hab ich vor rund zehn Jahren mal – kühn, entschlossen oder verzweifelt; ich weiß es nicht mehr – die "Pizza Alles" genommen. Ich konnte mich eben nicht entscheiden zwischen Salami und Schinken, Mais und Paprika, Artischocken und Oliven … leider war die "Pizza Alles" aber gar nicht 'das Beste von allem'. Denn indem alles drauf war, hat nix für sich mehr richtig geschmeckt. Art Of Illusion aus Polen machen es ein wenig wie "Ulla" und packen seeeehr viel drauf auf ihre Scheibe "Cold War Of Solipsism". Aber sie machen es so gut, dass die akustischen Geschmacksknospen jede Zutat mit Genuss wahrnehmen und dass einem innerhalb der insgesamt knapp Dreiviertelstunde Spielzeit des musikalischen Sieben-Gänge-Menüs niemals der Appetit vergeht.

"Ico" ist nur ein kleines atmosphärisches Amuse-Gueule, bevor "Devious Savior" einen siebeneinhalbminütigen Sternegang kredenzt. Jäh verzerrte Gitarrenwände knipsen das Licht aus. In fast tranigem Midtempo gehaltene Düster-Drives werden von präzisen Riff-Salven durchlöchert. Frickelige Präzisions-Parallelläufe bringen Tempo rein; und virtuose Instrumentalparts halten während jeder Sekunde des Songs die Spannung auf einem hohen Level. Es klingt heavy-proggig nach Communic und schamanisch-finster wie Deadsoul Tribe. Und darüber zeigt sich eine Songarchitektur, die mit raffinierten roten Fäden arbeitet und dabei viel lieber ins Epische navigiert, als sich mit klassischer Refrainstruktur gleich beim ersten Hören den Schneid abkaufen zu lassen.

"Santa Muerte" treibt diesen Anspruch auf die Spitze. Die Harmonien haben fast immer einen geheimnisvollen Anstrich; die Rhythmik der Drives ist komplex und ausgefuchst; der Aufbau des Stücks, auch was die unkonventionell getakteten Vocal Lines angeht, erinnert teilweise an Sieges Even zu Zeiten von "Steps" oder "A Sense Of Change". Das mag eine arg subjektive Assoziation sein; aber diese Freiheit im Ausdruck, die aber nie ins Beliebige abdreht, hat schon viel Feines. Auch die etwas bodenständigere, aber mit gut zehn Minuten längste Nummer des Albums, "King Errant", kommt inspiriert episch daher und ist alles andere als Songwriting-Convenience. Die druckvoll-metallische, düstere Power Metal-Atmosphärik inklusive lyrischer Piano-Kontrapunkte erinnert an Redemption.

Bei "Allegoric Fake Entity" ist schon wesentlich eher als in den zuvor erwähnten Beispielen ein wiederkehrender Chorus erkennbar; der ist aber mit einem irren Tempowechsel ausgestattet und wird bei jedem Auftauchen raffiniert variiert. Atmosphärisch fühlt man sich in Vanden Plas-Manier gefesselt, zwischenzeitlich virtuos und abgedreht-verfrickelt mit jazzigen Einsprengseln an Andromeda erinnert. Am Klarsten in eingängigem 'Normal-Modus' konstruiert ist das ruhige und sangbare, aber ebenfalls harmonisch interessant mysteriosierte "Able To Abide" mit viel Klavier und Akustikgitarre. Das ist mehr als ’nur' eine Ballade, sondern wird Ansprüchen von Leuten gerecht, die Sachen wie Fates Warning verehren.

Ein Tribut an selbige Prog Metal-Giganten könnte der düster-mysteriöse Titeltrack "Cold War Of Solipsism" sein … zumindest da, wo man noch mit cleanen Arpeggien die Spannung aufbaut, die schon bald elektrisch verstärkt ungeheuer viel tiefschwarze Heavy-Psychedelik à la Tool annimmt, bevor der jäh hereinbrechende Power Metal-Refrain mit in die Luft gestreckten Fäusten alle Assoziationen, die sich das Hirn fein säuberlich zurechtgelegt hat, wieder zerschmettert. Und überhaupt: die Assoziationen … so viele Gruppen kommen einem als vermeintliche Einflussgeber in den Sinn. Bei keiner halten sich Art Of Illusion aber lange auf. Sie schaffen es auf Weltklasseniveau, aus allen (ohnehin unmöglich neu zu erfindenden) Zutaten ihr eigenes Ding zu machen. Diese polnische "Pizza Alles" schmeckt wirklich vorzüglich. Und einzigartig.

Das haben sich die Jungs übrigens offenbar erarbeitet. "Cold War Of Solipsism" ist ihr zweites Studioalbum. Auf dem ersten, "Round Square Of The Triangle" von 2014, gab es mit "Distance" beispielsweise noch eine lange instrumentale Nummer, die zwar spielerisch vollends überzeugte, aber vom ersten bis zum letzten Ton nach Dream Theater klang. So etwas ist Vergangenheit; die Extraklasse ist geblieben. Und die beinhaltet ideenreiche Frickeleien, die einem dank kreativer Details nie auf den Keks gehen. Zudem ein atemberaubendes Um- und Miteinander von Heaviness und lyrischen Kontrapunkten. Mutig 'un-erhörte' Melodien. Und: (auch im Prog-Sektor nicht selbstverständlich) Keyboards, die nicht bloß Beiwerk sind, sondern unverzichtbar für die komplexen, aber intuitiven Arrangementes dieser seelenberührenden Songs.

Einzig die Lyrics, die sich zumeist mit inneren Kämpfen beim Ringen um geistige Orientierung in einer emotional zerklüfteten Welt beschäftigen – die sind oft ein bisschen zu 'gewollt' philosophisch. Auch, wenn einige coole Textzeilen rumkommen, hat man hier und da den Eindruck, dass da jemand ein paar frisch entdeckte Vokabeln unbedingt unterbringen wollte. Aber gut – so schlagen wir eben auch mal im Wörterbuch nach auf der Suche nach dem, was 'face coagulate', 'impassive gait' und 'endomorphic sense of trust' bedeuten könnten. Aber spätestens bei der Idee, zur Interpretation des Albumtitels "Cold War Of Solipsism" im Duden mal unter "Solipsismus" nachzugucken, ist da vieles schon wieder verziehen. Das muss wohl ein bisschen kompliziert sein:

erkenntnistheoretische Lehre, die alle Gegenstände der Außenwelt und auch sogenannte fremde Ichs nur als Bewusstseinsinhalte des als allein existent angesehenen eigenen Ichs sieht

 

 


Line-up Art Of Illusion:

Filip Wiśniewski (guitars)
Paweł Łapuć (piano, keyboards)
Kamil Kluczyński (drums)
Mateusz Wiśniewski (bass)
Marcin Walszak (vocals)

Guest musician:
Barth Sobieraj (choirs – #7)

Tracklist "Cold War Of Solipsism":

  1. Ico (2:25)
  2. Devious Savior (7:27)
  3. Allegoric Fake Entity (5:14)
  4. Santa Muerte (6:44)
  5. Able To Abide (4:22)
  6. Cold War Of Solipsism (8:03)
  7. King Errant (10:09)

Gesamtspielzeit: 44:27, Erscheinungsjahr: 2018

Über den Autor

Boris Theobald

Prog Metal, Melodic Rock, Klingonische Oper
Meine Beiträge im RockTimes-Archiv

Mail: boris(at)rocktimes.de

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