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Barclay James Harvest / Everyone Is Everybody Else – CD- & DVD-Review

Wie geht man als Plattenproduzent mit Klassikern um? Darf man Hand anlegen an die alten Bänder und einen völlig neuen Mix alter Aufnahmen aussteuern? Ist das dann noch das Original oder bereits eine andere Musik?

Das Label Esoteric Antenna legt uns eine fette Produktion des 1974 entstandenen Barclay James Harvest-Albums "Everyone Is Everybody Else" auf den Ladentisch, luxuriös ausgestattet mit einer remasterten Fassung des Originals und einer ganz neu überarbeiteten Version, ergänzt um eine 5.1 taugliche Ton-DVD auf höchstem technischen Niveau.

Bei meiner Recherche habe ich mit einer gewissen Befriedigung gelesen, dass die Band in den frühen Siebzigern nie so ganz zufrieden gewesen war mit dem Klang ihrer damals fünften Langspielplatte. Hey, dann sind wir auf einer Wellenlänge. Wenn ich ehrlich bin hab ich die Abmischung von "Child Of The Universe" auf eben dieser Studio-Platte nie verstanden, zumal ich den Song zuerst von der viel später erschienenen Scheibe Live Tapes (1978) kannte und schätzte. Die Studioversion passte damals für mein rein persönliches Empfinden in sich nicht stimmig zusammen. Das hart akzentuierte Piano und der seltsam grob klingende Bass wirkten angesichts der viel harmonischeren Live-Version für mich eher kontraproduktiv und befremdend als den Song zu tragen und zu stützen. Die Band soll damals viele Stunden im Studio verbracht haben, um ihr "Child" im Nachhinein noch auf die Spur zu bringen. Richtig gelungen ist das damals nicht und umso mehr freue ich mich, im neuen Mix endlich einen alten Freund wieder zu entdecken.  Denn "Child Of The Universe" hat in unseren Tagen leider an Aktualität nichts verloren und eindrucksvoller als in diesem Song haben Rockmusiker den Irrsinn des Krieges wohl selten angeprangert.

Überhaupt hatte ich immer schon das Gefühl, dass die Songs von "Everyone Is Everybody Else" erst Monate später auf "Live" (ebenfalls 1974 produziert) ihr wahres Potential entfaltet haben.

Bis dahin waren Barclay James Harvest sowohl im Studio als auch live mit einem klassischen Groß-Orchester unterwegs gewesen. Ein Aufwand, den am Ende keiner mehr bezahlen konnte. Kein Wunder also, dass sich die Suche nach dem passenden Sound anfänglich so schwierig gestaltete, war man doch in neuen Gefilden unterwegs und wusste wohl selbst noch nicht so recht, wohin die Reise gehen würde. Ich bin mir ziemlich sicher, hätte man "Everyone Is Everybody Else" etwa nach "Gone To Earth" aufgenommen, dann wäre womöglich ein klangliches Erlebnis dabei entstanden, wie es uns nun nach so vielen Jahren (endlich) vorliegt.

Damals, in der Zeit zwischen 1974 und 1975 bewiesen die Jungs von Barclay James Harvest auf den Bühnen einfühlsam und nachhaltig, dass sie eine sehr ernst zu nehmende progressive Rockband waren. Bevor sie von Friedensbewegungen und späten Möchtegern Hippies vereinnahmt wurden (woran sie nicht ganz schuldlos waren, da ihren Songs ab den späten Siebzigern ein allzu zuckersüßer Beigeschmack anhaftete). Nein, damals in 1974, da hatte die Band ein durchaus rockorientiertes Konzept. Selbstverständlich basierend auf einfühlsamen Gesangsparts und der so einnehmend melodiösen Gitarre eines John Lees. Und vor allem war es die perfekt passende Abstimmung zwischen Woolly Wolstenholmes malerischen Keyboards und eben Johns Gitarre, die den authentischen BJH-Sound heraufbeschwor. Mel Pritchard, der immerhin Carmine Appice als ein Vorbild benannte, war sicher ein Rock-Drummer, der konnte jederzeit Fahrt aufnehmen und den Duktus der Band nach vorn treiben. Les Holroyd war ein dankbarer Gesinnungsgenosse und beide kannten sich schon aus frühen Kindertagen. Damit war die Rhythmusfraktion für alle Taten gerüstet, aber das Geschick der Musik von Barclay James Harvest entschied sich in den Harmonien.

Schade, dass Mel und Woolly die hier nun vorliegende, klanglich ultimative Klarstellung eines echten Klassikers der Band (auf CD 2) nicht mehr miterleben können, ich bin sicher, letzterer würde sehr zufrieden realisieren, wie sich sein unaufdringliches Orgelspiel mit warmen Harmonien sanft wie ein Federkissen unter die wunderschöne Gitarre von John Lees legt, ohne jedoch den rockigen Grundton der Songs aus den Augen zu verlieren.

Endlich entzerrt sich ein verschobenes Bild zu Klarheit und Schönheit. Der Bass wird in seiner für mich überzogenen Dominanz eingefangen und an seinen vorbestimmten Platz geführt, während dezente Rhythmus-Begleitungen, bestehend aus minimalistischen Tambourin-Einsätzen oder einer zarten akustischen Gitarre, entsprechend aufgewertet und klanglich poliert den Weg der Songs viel ausdrucksstärker begleiten als zuvor. Dazu wurde der Sound zum Wohle einer erheblich verbesserten Transparenz in den Hochtonbereichen deutlich heraus gestellt, großartig und sehr dezent wahrzunehmen im Intro zu "The Great 1974 Mining Disaster". Die Musik gewinnt damit an Raum und Fülle. Wie weit die Amplitude der Hochtöne reicht, erkennt man übrigens auch im Schlagzeug in "Paper Wings". Sehr viel weiter hätte man da allerdings nicht gehen dürfen.

Und so erheben sich endlich Johns Soli im rechten Verhältnis über dem Grundgerüst. Kraftvoll, elegant und bewegend, kernig über den Arrangements, ohne aufdringlich oder allzu dominant zu wirken, voller Gefühl und Gespür für dramatische Melodien. Nein, hier hat man genau die Mischung gefunden, die sich die Band wohl schon damals immer gewünscht hat.

Doch komme ich nun endlich mal auf den Punkt?  Mit dieser neu gemischten Fassung erscheint es mir, als habe man die alten Fehler der ursprünglichen Version endlich und für alle Zeiten behoben und die immer schon ambitionierten Songs in das musikalische Gewand gesteckt, das sie verdienen. Damit beantwortet sich auch die Eingangsfrage, ob man sich derart kreativ an solch klassischem Material vergreifen darf. Ja, man darf. Wenn es dazu führt, dass großartige Songs endlich so klingen, wie es schon damals hätte sein sollen.

Dieser Luxusausführung liegt neben den beiden unterschiedlichen Abmischungen eine weitere DVD zugrunde, die die neue Version in aufbereiteter 5.1-Technik dem modernen Home-Cinema Freund nahe bringt. Das ist cool und für das jüngere Publikum sicher ein grandioser Gimmick. Ich selbst bin da eher klassisch unterwegs und vertraue voll und ganz auf meine bewährte Stereoanlage. Zwei Lautsprecher können durchaus ausreichen, wenn sie aus einem eloquenten Verstärker befeuert werden.

Sehr traurig ist nur, dass ausgerechnet das schöne "For No One" auf der ansonsten ausgezeichneten neu gemixten Fassung fehlt. Wie ich der Webseite des Labels entnehmen konnte, sind die Multi-Track-Masterbänder  dieses Songs schon lange verschwunden – was soll man da machen?

Schade, denn der Rest ist wirklich erstklassig gelungen!


Line-up Barclay James Harvest

John Lees (lead guitar, acoustic guitar, vocals)
Les Holroyd (bass, acoustic guitar, rhythm guitar, vocals)
Stuart 'Woolly' Wolstenholme (keyboards, vocals)
Mel Pritchard (drums, percussion)

Tracklist "Everyone Is Everybody Else":

CD 1

  1. Child Of The Universe
  2. Negative Earth
  3. Paper Wings
  4. The Great 1974 Mining Disaster
  5. Crazy City
  6. See Me, See You
  7. Poor Boy Blues
  8. Mill Boys
  9. For No One
  10. Child Of The Universe (US single version)
  11. The Great 1974 Mining Disaster (original mix)
  12. Maestoso (A Hymn In The Roof Of The World)

CD 2

  1. Child Of The Universe
  2. Negative Earth
  3. Paper Wings
  4. The Great 1974 Mining Disaster
  5. Crazy City
  6. See Me, See You
  7. Poor Boy Blues
  8. Mill Boys
  9. Child Of The Universe (US single version new stereo mix)
  10. Negative Earth (original mix)
  11. Child Of The Universe (remake of US single)

DVD

  1. Child Of The Universe
  2. Negative Earth
  3. Paper Wings
  4. The Great 1974 Mining Disaster
  5. Crazy City
  6. See Me, See You
  7. Poor Boy Blues
  8. Mill Boys
  9. Child Of The Universe (US single version)

Gesamtspielzeit: 52:47 (CD 1), 49:25 (CD 2), 40:13 (DVD), Erscheinungsjahr: 2016 (Original 1974)

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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