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Baron Crâne / Commotions Part.1 – CD-Review

Baron Crâne / Commotions Part.1

Hybriden gibt es in der Rockmusik viele, das ist gut so und sorgt für Abwechslung. Meist liegen die Einflussgrößen jedoch in einem Dunstkreis, der seine natürlichen Schnittstellen bildet. Bei Baron Crâne kann man diese These nicht aufrecht erhalten. Im Grunde müsste man den für mich immer ein wenig theoretischen Begriff des Math Rock neben dem Noise als Grundausrichtung über die Musik der drei Franzosen aus der hinreißenden Metropole Paris stellen, denn ersterer erklärt die auch hier vorhandenen Ausflüge in Richtung Jazz, Progressive und Stoner.

Aber eines sage ich vorweg, die Band lässt sich in eingängige Spektren überhaupt nicht einordnen und wäre als Tier eine faszinierende Chimäre aus Formen und Farben. Allerdings klingt die Musik deutlich weniger farbig, hier herrschen eher klare, kristallen düstere Klänge mit krassen Kanten und Brüchen. Da passt das Cover mit kalten scharfkantigen Betonblöcken und seinem endzeitlichen Charakter, fast wie ein futuristisch entmenschlichtes Parkhaus aus dem Labyrinth der "Maze Runner", ganz hervorragend dazu.

Das Album eröffnet mit "Firmin". Repetitiv monotone Bassläufe, Riffs, die weiter und weiter auskeilen und ein höchst energetischer Schlag, der eine Art stolpernden Rhythmus kreiert. Und Breaks sind keine Breaks, sie sind Programm – so entsteht eine dynamische Soundlandschaft eines klassischen Powertrios mit progressiven Songstrukturen. Sehr geil – und die kernige Sologitarre hat mich gleich am Schlafittchen, ganz egal, ob sie reflektiert aus der Stille kommt oder sich aus den wilden Akkorden herausschält. Ach ja, zum Ende erleben wir dann sogar einen Abschnitt, den man durchaus im Reich der Fusion ansiedeln kann. Na das ist ja gleich zu Beginn mal ein richtiger Parforce-Ritt und ein Fünf-Gänge-Menü in einem. Im Begleitmaterial erzählt uns Léo Pinon süffisant, wie unterschiedlich ausgeprägt Besucher seiner Konzerte sind. Da ist vom Headbanger bis zum konzentrierten Zuhörer alles dabei. Nach der ersten Nummer weiß man warum.

Um die These über den Reichtum an Abwechslung gleich um eine Nuance zu erweitern, warten zwei Songs mit Gastmusikern und vokaler Begleitung auf. So auch das leicht chaotische "Acid Rains" mit seinen drastischen Stilbrüchen. Wundern muss uns diese wilde Fahrt nicht wirklich, stehen doch unter anderem Frank Zappa und The Mars Volta als Einflüsse auf dem Waschzettel. Allerdings fängt die Band diese Ungezähmtheit durch die puristische Besetzung immer wieder auf und erdet uns ganz wunderbar. Vor allem das kraftvolle Gitarrenspiel Léos setzt uns unter Strom und saugt uns durch die aberwitzigen rhythmischen Verrenkungen.

"Closing Door" wirkt vor allem durch seinen zurückgenommenen Mittelteil und seine zwischenzeitlichen jazzigen Pointierungen, die dann aber gleich wieder durch die Waschtrommel hektischer Schläge und gebrochener Rhythmik gezogen werden. Ein zweites Mal darf Léo sinnierend reflektieren, dann war’s das auch schon wieder.

"On Rase Les Murs" lebt von der wüsten Rap-Einlage des Gastmusikers INCH und dem Soundgerüst, das irgendwo bei den Red Hot Chili Peppers vorbei geschaut haben könnte, es verleiht dem Song eine gewisse Moderne. Es ist der aggressive Sprechgesang, der monoton fast nur auf einer Note liegt, aber durch die Intensität geradezu beängstigende Assoziationen zu wecken versteht. In mir kommen Bilder auf, die die sozialen Schattenseiten von Paris in erschreckender Regelmäßigkeit auf die Bildschirme weltweiter Nachrichtensendungen projizieren. »Wir rasieren die Wände« übersetzt der Translator den Titel, passt irgendwie in die ganze kantig, kalte Atmosphäre, wie auch schon auf dem Cover so eindrucksvoll widergespiegelt. Hab ich erwähnt, dass der Titel des Albums übersetzt 'Aufruhr' bedeutet? Die soziale Allegorie scheint somit kein Zufall zu sein und da fällt mir ein, dass für Ende 2020 eine Fortsetzung geplant ist; "Commotions Part.2"! Der Aufruhr hat also gerade erst begonnen und wir werden sehen müssen, wohin er uns führt. Ich finde es großartig, dass Musiker auf diese Weise das Zeitgeschehen in ihrer Arbeit reflektieren, auch wenn wir uns angesichts der Themenkreise durchaus alle Sorgen machen müssen.

"Fifth Stone" ist dann noch einmal eine instrumentale Nummer und wirkt ein wenig wie eine Reise durch die beängstigenden modernen Betonwüsten und ihre soziologischen Konsequenzen. Abermals bin ich gedanklich im Endzeit-Drama "The Maze Runner", wo die Abschnitte der Außenbezirke ja auch in Nummern eingeteilt waren. Und wir sind beim fünften Stein, von dem wir uns abrupt und nachdenklich bedrohlich ausklingend plötzlich verabschieden. Dieses Ende ist eben keins und stellt den Teil 2 irgendwie schon mal in Aussicht.

Mein lieber Herr Gesangsverein, diese Musik wühlt auf, denn sie findet in ihrer kantig scharfen Aggressivität genau den richtigen Ton, um düstere Szenarien zu beschreiben, die sich momentan überall auf der Welt entwickeln und die den beschriebenen Endzeit-Themen erschreckend deutlich näher kommen. Musik, die uns aufrütteln will? Musikalisch schafft sie das allemal, ein spannenderes Konzept auf Basis eines Powertrios wird man lange suchen müssen. Für mich ein glasklarer Merkzettel für die nächste Paris-Reise in einer post-pandemischen Zeit. Diese Jungs möchte ich unbedingt mal live erleben, und ich möchte sie da agieren sehen, wo ihre Musik entsteht: Im Herzen der für mich immer noch spannendsten Stadt der Welt, trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihrer teils widersprüchlichen Ausprägungen. Baron Crâne machen Musik für Erwachsene und hartgesottene Menschen, für allzu sanfte und harmoniebedürftige Geister ist das sicher nichts.


Line-up Baron Crâne:

Léo Pinon (guitar)
Léo Goizet (drums)
Olivier Pain (bass)

guests:
Arthur Brossard (vocals – #2)
INCH (vocals – #4)

Tracklist "Commotions Part.1":

  1. Firmin
  2. Acid Rains
  3. Closing Door
  4. On Rase Les Murs
  5. Fifth Stone

Gesamtspielzeit: 32:00, Erscheinungsjahr: 2020

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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