Bob Dylan hatte sich in den sechziger und siebziger Jahren bereits ein musikalisches Denkmal erschaffen, das kaum zu toppen und erst recht nicht mehr zu stürzen war. Was ihn jedoch nicht davor bewahrte, anschließend eine fast zwei Jahrzehnte andauernde Talfahrt durchleben zu müssen. Die drei christlich bzw. spirituell geprägten Werke von "Slow Train Coming" (1979) bis "Shot Of Love" (1981) fanden und haben zwar ihre Freunde, waren jedoch bei weitem nicht jedermanns Sache. Neben guten ("Infidels", 1983) sowie sehr guten ("Oh Mercy", 1989) standen in dieser Zeit allerdings auch Werke wie "Empire Burlesque" (1985), "Knocked Out Loaded" (1986, die erste Scheibe in der damals 24-jährigen Karriere ohne Silber- Gold- oder Platin-Auszeichnung) oder "Down In The Groove" (erneut ohne Auszeichnung), die – zumindest gemessen an den zurückliegenden Platten – deutlich unter Par lagen. Anfang der Neunziger erlebte der Rezensent ein ziemlich desaströses Dylan-Konzert in Stuttgart und nach zwei folgenden Alben mit Traditonal- bzw. Cover-Songs war dann erstmal vier Jahre lang Pause.
Viele Fans, inklusive dem Rezensenten, hatten zu diesem Zeitpunkt mit dem 'aktuellen' Bob Dylan innerlich mehr oder weniger abgeschlossen. Und dann kam im Jahr 1997 wie aus dem Nichts die Scheibe "Time Out Of Mind" auf den Markt und haute so ziemlich jeden vom Hocker. Und das hatte seine Gründe. Vor allem legte der Protagonist hier nach sieben Jahren ohne eigenes Material unglaublich intensive Texte vor, die einerseits von sehr guten Songs begleitet wurden, die dann andererseits auch noch vom Produzenten Daniel Lanois einen sehr dichten, unglaublich erdig-warmen und ebenso intensiven Sound verpasst bekamen. Dazu bestand die Band aus sogenannten 'alten Hasen', aus Spitzenmusikern, die genau verstanden, was Dylan und Lanois von ihnen wollten.
Die dominierenden Themen der Scheibe sind (enttäuschte) Liebe, Einsamkeit, Desillusion, Midlife Crisis sowie der Tod. Und das aus der Sicht eines Mannes, der stramm auf die Sechzig zugeht und bereits alles im Leben gesehen und erlebt hat. Was ihm jedoch in der Gegenwart nichts bringt, ihn eher verwirrt und ratlos zurückgelassen hat. Im Opener "Love Sick" rennt der Protagonist nachts durch die »toten Straßen« einer Kleinstadt, während er dort verschiedene Szenen beobachtet und wie ein Hund unter seiner Einsamkeit leidet, während »die Wolken weinen«. Untermalt wird das Ganze sehr geschmackvoll von einer Blues-/Jazz-/Rock-Mischung, die aus einer anderen Welt bzw. aus einem anderen Jahrhundert zu stammen scheint. Bezeichnenderweise aus den zwanziger- und dreißiger-Jahren und aus dem tiefen Süden der USA, während die mit Besen gespielten Drums für das Jazz-Feeling sorgen.
Bei "Dirt Road Blues" scheint es mit dem selben Protagonisten weiter zu gehen, allerdings nicht mehr niedergeschlagen, sondern der jetzt aufgekratzt, wie unter Aufputschmitteln stehend auf die Suche nach der Frau geht, die ihn zuvor verlassen und ins Unglück gestürzt hat. Begleitet von einem flotten Rock-Song ist ihm jedoch selbst in dieser Verfassung klar, dass diese Geschichte nicht gutgehen kann. Eines der absoluten Highlights der Platte ist das unter die Haut des Hörers gehende "Standing In The Doorway", das die darbende Seele des Erzählers wie eine unheilbare, ständig fortschreitende Krankheit wirken lässt. Die angegriffene, kratzige Stimme Dylans könnte gar nicht besser zu diesen Songs passen und das Feeling übermittelt er ebenfalls wie kein Zweiter.
Die Texte sind meisterhaft verfasst und lassen nicht nur automatisch Bilder, sondern sogar ganze Geschichten vor dem geistigen Auge des Hörers entstehen. Immer wieder wird ein Bild der völligen Entfremdung des Protagonisten geschildert (za:…sie sagen mir, dass alles wieder in Ordnung kommt, aber ich weiß nicht mal, was 'in Ordnung' überhaupt bedeutet…«). Ein absolut faszinierender Song über das Älterwerden und den nicht zu vermeidenden, irgendwann bevorstehenden Tod (der wie so oft bei dem Amerikaner aber auch anders ausgelegt werden könnte) ist "Not Dark Yet". Unglaublich traurig-schön unterlegt von Bucky Baxters (Ex-Steve Earle & The Dukes) Pedal Steel-Gitarre steht am Ende der geschilderten Gedanken die blanke Einsicht »Es ist zwar noch nicht dunkel, aber es wird nicht mehr lange dauern«.
Die Beschäftigung mit dem eigenen Ableben findet auch in anderen Songs (»…ich versuch' bloß in den Himmel zu kommen, bevor die den Laden da oben dicht machen…«) statt, aber es gibt tatsächlich eine Ausnahme in Form der Nummer "Make You Feel My Love". In der Tat ein Love Song, bei dem der Hörer fast zur Überzeugung kommt, dass der Protagonist des Albums endlich seine Liebe gefunden hat. Spätes Glück also für jemanden, der sich auch hier anhört, als wäre er bereits einmal beerdigt worden, um dann wieder aufzuerstehen? Den Hörer beschleicht zumindest irgendwann das Gefühl, dass sich der Sänger hier eher in einem Traum statt in der Realität zu befinden scheint. Trotzdem eine wunderschöne (und mittlerweile vielfach gecoverte) Ballade, auf der zwar nicht ’schön', dafür aber sehr gefühlvoll gesungen wird.
Den absoluten Höhepunkt der Orienterungslosigkeit des Charakters dieses Konzeptalbums (ohne zusammenhängende Geschichte, aber immer dieselbe Person betreffend) zeigt sich dann in dem abschließenden, ganze 16 Minuten laufenden "Highands", das eine unglaubliche Leere und Desillusion vermittelt. Würde man Bob Dylan darauf ansprechen, würde er mit Sicherheit auf einen erfundenen Protagonisten verweisen. Aufgrund der Überlieferung dieser Tracks darf aber zumindest spekuliert werden, dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprechen könnte. Aber selbst wenn sich die auf dem kompletten Album geschilderten Themen nicht nach 'Friede, Freude, Eierkuchen' anhören, haben wir es mit einem absoluten Klassiker zu tun, der den Hörer trotz seiner hohen Intensität nicht unbedingt in dunkle Stimmungen mitzieht, sondern ihn vielmehr immer tiefer in die musikalische Klasse der Musiker und Songs eintauchen lässt.
Dem Rezensenten lag für dieses Review die 2CD-Ausgabe von "Fragments …" vor, das darüber hinaus auch digital, als 5CD-Box sowie auf 4LPs erschienen ist. Auf CD 1 befindet sich der 2022er Remix des Original-Albums (Vergleiche erspare ich mir an dieser Stelle), während man auf CD 2 drei Outtakes und neun alternative, sich im Entwicklungs-Stadium befindliche Versionen der Album-Songs geboten bekommt. Die Outtakes ("The Water Is Wide", "Red River Shore" sowie "Mississippi") sind absolut klasse, während die noch nicht fertigen Songs ebenfalls sehr interessant sind, da man deutlich erkennen kann, was anschließend geändert und tatsächlich auch verbessert wurde.
Fazit: Das hier auf "Fragments – Time Out Of Mind Sessions 1996 – 1997 – The Bootleg Series Vol. 17" nochmal thematisierte Album "Time Out Of Mind" ist ein brillanter Klassiker und aus den besten (zumindest) fünf Alben (beim Rezensenten definitiv unter den besten drei) von Bob Dylan nicht weg zu diskutieren. "Fragments …" ist für Dylan-Fans daher ein absolutes Muss, darf, soll und muss aber auch jedem anderen interessierten Musik-Fan ans Herz gelegt werden. Eine Platte, die man seinen besten Freunden schenkt!
Line-up Bob Dylan:
Bob Dylan (acoustic-, rhythm- & lead guitars, harmonica, piano, lead vocals)
Daniel Lanois (rhythm- & lead guitars, organ)
Tony Garnier (electric bass, acoustic stand-up bass)
Jim Keltner (drums – #1,3-7,10)
Brian Blade (drums – #1,3,4,6,7,10)
Winston Watson (drums – #2)
David Kemper (drums – #8)
Tony Mangurian (percussion – #3,4,10,11)
Robert Britt (Martin acoustic & Fender Stratocaster – #3,6,7)
Bucky Baxter (acoustic guitar & pedal steel – #3,5,7,8)
Cindy Cashdollar (slide guitar – #3,5,7)
Duke Robillard (guitars – #4,5,10)
Augie Meyers (Vox organ combo, Hammond B3 organ, accordion)
Jim Dickinson (keyboards, Wurlitzer electric piano, pump organ)
Tracklist "Fragments …":
- Love Sick
- Dirt Road Blues
- Standing In The Doorway
- Million Miles
- Tryin' To Get To Heaven
- 'Till I Fell In Love With You
- Not Dark Yet
- Cold Irons Bound
- Make You Feel My Love
- Can’t Wait
- Highlands
- The Water Is Wide
- Red River Shore (version 1)
- Dirt Road Blues (version 1)
- Love Sick (version 1)
- Tryin' To Get To Heaven (version 2)
- Make You Feel My Love (take 1)
- Can’t Wait (version 1)
- Mississippi (version 2)
- Standing In The Doorway (version 2)
- Not Dark Yet (version 1)
- Cold Irons Bound
- Highlands
Gesamtspielzeit: 72:39 (CD 1), 77:00 (CD 2), Erscheinungsjahr: 2023 (1997)
2 Kommentare
Rainer Hellstern
6. März 2023 um 20:24 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hi Markus. Super Reviews.
Du gehst auf die Songs ein
Sehr gut!!!
Bei fast allen anderen Reviews
geht es meist um den Sound und den leidlichen Konflikt zwischen Bob Dylan und Daniel Lanois.
Lanois hat wie schon bei Oh Mercy
hier eine super Arbeit gemacht und sicher auch einige Nerven verloren.
Ich war damals über beide Scheiben sowas von glücklich und bewegt. Time Out Of Mind geht da natürlich sehr viel tiefer.
Thank You
Markus Kerren
14. März 2023 um 12:01 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hi Rainer,
danke für deinen Beitrag. Du schreibst:
"Bei fast allen anderen Reviews geht es meist um den Sound und den leidlichen Konflikt zwischen Bob Dylan und Daniel Lanois".
==> also in etwa so punktgenau das Thema verfehlt wie wenn jemand auf den Markt geht und sich nach ihm unbekannten Äpfeln erkundigt, während ihm der Verkäufer irgendwas über den Aufbau des Gehäuses sowie den Stiel erzählt, obwohl der Käufer doch eigentlich bloß bzw. in erster Linie wissen möchten, ob der Apfel schmeckt?
Ja, mich lassen solche Reviews auch immer etwas ratlos zurück bzw. weiß ich nach dem Lesen oft nicht mehr über die Platte, als davor. Danke nochmal für dein Lob.
Über diese Songs bzw. das Album könnte man eigentlich ein ganzes Buch schreiben, soviele Bilder und Filme laufen dem Hörer beim Anhören vor dem geistigen Auge ab, so intensiv hat Dylan (für meinen Geschmack) bis dahin noch nie geklungen. Ein echtes Meisterwerk! Und klar, die "Oh Mercy" war auch eine sehr gute Platte.
Beste Grüße,
Markus