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Byggesett Orchestra / Poems About Everything – Vinyl-Review

Byggesett Orchestra / Poems About Everything – Vinyl-Review

Ob das Vinyl blau ist, weil man die Kompositionen der vier Musiker in der blauen Stunde vielleicht am besten genießen kann? Vielleicht ist da etwas dran, denn die Musik verlangt Aufmerksamkeit. Und zwar uneingeschränkt. Georg, Peter, Markus und Andre sind als Quartett unterwegs und dass sie das Wort Orchestra anstatt z. B. Band im Namen tragen, ist gut gewählt, denn es ist schon orchestral, was da zum Albumstart aus den Lautsprechern gelangt. Orchestral im Sinne einer ausgeklügelten Strategie, wie und wann welches Instrument mit welchem 'Auftrag' was spielen soll. Orchestral auch, weil man weit davon entfernt ist, den üblichen Formelsatz der U-Musik zu benutzen. Vielmehr ist es so, dass sehr filigran vorgegangen wird, indem man die genau abgemessenen Portionen an Jazz, Ambient und perkussiven Höhenflügen so zusammenführt, dass der Hörer samt-rin gebannt und in einer Mischung aus Aufmerksamkeit, Gespanntheit, aber auch Entspanntheit den musikalischen Kosmos mit den Ohren beobachtet,

Der Trackname "Sand" ist gut gewählt, denn wie das kleinkörnige Sediment in einer Sanduhr, rieseln die ersten Minuten unbeirrbar und packend durch den Äther. Georg liebkost die Pianotasten und Markus verbreitet mit der Trompete filmmusikreife Noir-Stimmungen. Man hat zehn Minuten Zeit mitzurieseln, wenngleich ab etwa Minute vier dronenhafte Monster-Perkussion den Fokus bestimmt.
Auch "Ochre" lässt zu Anfang zarte Tasten erklingen, bis diese herrlich dystopisch anmutende Trompete ihre Elegien in den Äther pustet. Wahrscheinlich mit Dämpfer gespielt, ist dieses Instrument für mich mehr als die halbe Miete des Byggesett Orchestras. Und sie muss sich behaupten gegen Drone- und andere Loops, was ihr allerdings gelingt.

Wie man dem Line-up entnehmen kann, sind da neben Piano und Trompete an 'echten' Instrumenten auch Gitarre und Drums. Die Gitarre, eine viersaitige Baritongitarre ist wohl ähnlich einer Mischung aus Bass und Gitarre. Tiefer gestimmt und auch zum Spielen von Soli geeignet. Zumindest scheint mir das so zu sein, wenn ich mir im Netz ein paar Demos anschaue. Die Technik dieses Teils soll mir aber egal sein, denn was das BO damit anstellt, ist nicht von schlechten Eltern und überhaupt: ob diese Mensur Verlängerung, ob Synthesizer oder Synthesizer Bass – es fügt sich alles genau dort ein, wo es hingehört.

Kollege Joe hat "Poems About Everything" bereits im Mai des vergangenen Jahres in der CD-Version rezensiert und zu dem mit zweieinhalb Minuten kürzesten Stück "Choral" gemeint, es sei wohl eine »Art Klangteiler« zwischen den vier langen Nummern. Das Stück beendet die erste Seite der Langrille und gibt der Baritongitarre, als auch der Trompete Gelegenheit, die Hörer – wenn auch in der Tat viel zu kurz –  zu verzaubern. Scheint an der Gegend, dem Niederrhein zu liegen, denn wie der aus dem Jazz kommende Markus Türk, hatte mich vor ein paar Jahren ein anderer Musiker aus dieser Gegend mit dem gleichen Instrument verzaubert: Der Schorsch von den Julls. Andere Musikrichtung, aber auch dieses gewissen Etwas an Stimmung, das man besonders mit einer Trompete vermitteln kann.

Byggesett Orchestras "Poems About Everything" in blauem Vynil

Byggesett Orchestras "Poems About Everything" in blauem Vynil

Die Julls sind zum Teil im Jam Rock zu Hause und wenn man Jam nicht nur im Rockbereich verortet, dann denke ich, dass auch das Byggesett Orchestra in dieser Disziplin eine gute Figur machen kann. Wen ihre Stücke auch perfekt arrangiert und choreografiert daherkommen, so unterscheiden sie sich doch, wie bereits erwähnt, vom üblichen Schema aus Hooks, Strophe, Refrain, usw. – und das liegt nicht daran, dass es keinen Gesang gibt. Der wäre hier sowie nicht passend und würde vorgeben, wie ein Track zu verlaufen hat. Nein, die Stücke sind so konzipiert, dass sie live neue Wege gehen könnten, dass sie live in der Spielzeit variieren und den Musikern während des Spielens alle Freiheiten geben könnten.

Auch "Mauve" lässt das vermuten, denn aus den bisher bekannten Zutaten wie Loops, Cluster, jazzigem Gebläse und pulsierender Rhythmik entsteht eine geballte Portion Fusion, in dessen jazzig-rockige Ausrichtung sich auch etwas Funk gesellt. Das ist eine Melange, die live gespielt geeignet ist, einen Saal zum Brodeln zu bringen. Ruhig startet "Teal" mit den mittlerweile liebgewonnenen Ausrufezeichen von Piano und Trompete, wobei allerdings im Hintergrund mehr oder weniger subtil ein Rhythmus zu leben beginnt, sich immer stärker in den Vordergrund trommelt und schließlich von Bass und Tasten unterstützt, mannshoch Im Stereodreieck steht. Wer keine direkten Nachbarn hat, möge bitte mal das größte Rad am Verstärker nach rechts drehen und dann
schauen, was der Nackenmuskulatur zuzumuten ist. Die Nummer fadet dann irgendwann aus und am besten, man startet das Album gleich noch einmal von vorn.

Da der Vinylversion ein Downloadcode beiliegt, kann man sich das Album auch in verlustfreiem Format herunterladen und 'erspart' sich das Umdrehen der Langspielplatte. Wobei die Fans dieses Mediums ja wissen, dass vor Vergnügen oftmals Arbeit steht. Und Arbeit und blau gehört ja auch irgendwie zusammen. Zumindest manchmal … "Poems About Everything" in blau ist ein feines Teil, optisch, klanglich und musikalisch sowieso.


Line-up Byggesett Orchestra:

Georg Sehrbrock (pianos, synthesizer)
Peter Körfer (4-string baritone guitar, synthesizer bass, loops)
Markus Türk (trumpet)
Andre Hasselmann (drums)

Tracklist "Poems About Everything":

Seite A

  1. Sand (10:04)
  2. Ochre (11:56)
  3. Coral (2:24)

Seite B

  1. Mauve (12:43)
  2. Teal (12:02)

Gesamtspielzeit: 49:08, Erscheinungsjahr: 2024

Über den Autor

Ulli Heiser

Hauptgenres: Mittlerweile alles, was mich anspricht
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