Wenn sich die Experten auch nach wie vor darüber streiten, steht immer noch weit und breit geschrieben, dass es sich bei Tommy von The Who um die erste Rock-Oper der Geschichte handelt. Was in diesem neuen Buch von Chris Charlesworth und Mike McInnerney selbstverständlich noch einmal untermauert wird. Aber "Tommy" hat nicht nur diesen Status inne, das Doppel-Album rettete der Band damals sprichwörtlich das Leben und spülte endlich Geld in die erschreckend leere Kasse. Leer? Eigentlich kaum vorstellbar, wenn man bedenkt, dass die Band damals bereits acht Top10-Singles und sehr respektable Albumverkäufe (des gleichnamigen Debüts sowie "A Quick One") vorweisen konnte, dazu fast grundsätzlich vor vollen Häusern spielte.
Was dabei jedoch oft vergessen wird, sind die damals für Bands miserablen Plattenverträge, der Lebensstil der Musiker sowie die – speziell im Falle The Who – turmhohen Kosten für neue Instrumente, nachdem Pete Townshend am Ende von Konzerten permanent seine Gitarren und Verstärker zu Kleinholz verarbeitete und Keith Moon mindestens genauso rabiat mit seinen Drum-Sets umging. Dazu kam, dass das im Dezember 1967 erschienene Album "The Who Sell Out" alles andere als sein Titel tat und die bis dahin wenigsten Exemplare einer Langrille der Band absetzte. Bereits in jenem Jahr keimte bei Townshend nicht nur die Idee für "Tommy" auf, es entstanden auch schon die ersten Songs dafür. Der Entstehungs-Prozess war jedoch ein langer, steiniger und von Schmerzen übersäter Weg, speziell für den Songwriter, der immer wieder von Selbstzweifeln geplagt und von seinen Band-Kollegen mehr oder weniger allein gelassen wurde. Die sollen sowohl die Storyline als auch die eigentliche Aussage damals weder verstanden, noch sich wirklich dafür interessiert haben. Da war über einen langen Zeitraum viel Zuspruch und Ermutigung des Who-Managers Kit Lambert von Nöten, um den guten Pete bei Laune zu halten.
Mike McInnerney, einer der beiden Autoren dieses Buchs, war für das Cover des Albums zuständig und bereits seit längerer Zeit mit Townshend befreundet. Beleuchtet werden auf diesen knapp zweihundert Seiten nicht nur das Album selbst, sondern auch die Vorgeschichte der Band und die Idee der Cover-Gestaltung, vor allem interessant sind aber der Zeitgeist sowie das persönliche Umfeld des Bandleaders in den Jahren 1967 und 1968. Der hatte nämlich (wie ein paar andere Londoner, darunter auch Ronnie Lane) den indischen Guru Meher Baba für sich entdeckt. Er wollte weg von Drogen- und Alkohol-Exzessen und hin zu innerem Frieden sowie dem wahren Sinn des Lebens. All dies floss in die Geschichte von "Tommy", die selbst Townshend in all ihren Facetten bis heute noch nicht schlüssig erklären kann, ein.
So werden also alle Aspekte dieser Scheibe noch einmal beleuchtet. Untergliedert in vier große Kapitel, die sowohl auf den Zeitgeist, die Musik, den grafischen Stil sowie das Vermächtnis der Scheibe eingehen. Auch werden die Live-Aktivitäten der Who bezüglich der "Tommy"-Songs, der mit hochkarätigen Gästen besetzte Kinofilm (Eric Clapton, Tina Turner, Elton John u. v. m.), weitere Theater-Aufführungen, die auf der Geschichte basieren und schließlich auch noch die daraus gecoverten Songs unter die Lupe genommen. Gespickt mit vielen Fotos ergibt sich daraus ein sehr interessantes und kurzweiliges Lesevergnügen, das umgehend Lust macht, das Album nochmal komplett durchzuhören.
Geschmacklich einwandfrei!
Kapitel "Tommy – Stil, Zeitgeist, Musik und…":
- Vorwort
- Einleitung
- Zeitgeist
- Die Musik
- Die grafische Gestaltung
- Das Vermächtnis
- Erläuterungen
- Auswahl-Bibliografie
- Index
- Bild-Nachweise
- Danksagungen
Verlag: Hannibal Verlag
Seiten: 176 Seiten
Gebundene Ausgabe
Preis: € 25,00
ISBN: 978-3-85445-673-5
1 Kommentar
Manni
1. März 2020 um 18:37 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Wie’s der Zufall will: Ich lese gerade nach 36 Jahren die WHO-Biographie "Before I get old" von David Marsh zum zweiten Mal. Das Buch
hab ich an Weihnachten 1983 von meiner damaligen amerikanischen Freundin Kris bekommen und das Werk wurde von der Presse gefeiert (A massively detailed and thoughtful history of The Who. "–Village Voice"). Leider out-of-print, aber günstig als gebrauchtes Paperback zu bekommen.
Ich kenn die Neuerscheinung von Chris Charlesworth und Mike McInnerney nicht, aber 25€ für magere 176 Seiten erscheinen mir wie Wucher. Dann doch lieber David Marsh, der bietet eine Menge mehr auf 546 Seiten! Allerdings gibt es das Buch nicht in deutscher Übersetzung, aber das ist eher ein Vorteil, denn viele Übersetzungen von Rockbüchern sind meiner Erfahrung nach einfach unterirdisch.
Klar ist aber in jedem Fall, dass "Tommy" ein Gigant ist und immer bleiben wird. Andeutungen gab es auf "The Who Sell Out" mit dem Song "Rael 1" (das dann zu "Amazing Journey" wurde) und dem "Sell-Out" Outtake "Glow Girl", wo es noch heißt: "It’s a Girl, Mrs. Walker, it’s a Girl". Was daraus wurde, wissen wir alle 🙂