Mit seinem Buchtitel "Das vermutlich allerletzte Ostrockbuch" lässt Christian Hentschel offen, ob von ihm zum gleichen Thema noch eine Fortsetzung zu erwarten ist. Eher nicht. »Denn es ist ein bisschen gemein, immer wieder auf der Ostrockklammer herumzureiten« , schreibt der Autor treffend im Vorwort.
Einerseits sind inzwischen an unterschiedlichen Stellen viele Anekdoten der Musiker veröffentlicht worden. Über viele Kanäle wurden einige dieser Geschichten weiter verbreitet. Andererseits ist es Tatsache, dass die maßgeblichen Bands, die teils noch immer existieren, schon viel länger im vereinten Deutschland musizieren. Alle verbindet sie das gemeinsame Geburtsland DDR.
Christian Hentschel schildert in dem vorliegenden Buch ein nicht unbedeutendes Kapitel deutscher Rockmusikgeschichte. Allerdings schafften es die Beteiligten nicht, sich in der Summe über das Nischendasein hinauszubewegen. Maximal einzelnen Liedern gelang es, einen größeren Bekanntheitsgrad zu erlangen.
Das wird beim Lesen aller 15 Kapitel deutlich. Die Protagonisten berichten in ihren Erinnerungen viel vom Aufbruch zu unterschiedlichen Zeiten. Manchmal schleicht sich dabei ein Stück Resignation ein. Doch beim Lesen fällt immer wieder auf: Das Glas war stets mindestens halbvoll. Immerhin handelt es sich um Musiker, die einer Passion nachgegangen sind, die viele Menschen erreicht. Da gibt es zwischen Ost und West keinen Unterschied.
Ganz klar, Ostrock steht nicht nur für eine geografische Einordnung. Westrock, Nordrock, Südrock – all das finden wir nicht auf der bundesweit einheitlichen Landkarte. Folglich muss diese Bezeichnung Ostrock zu gleichen Teilen für eine gesellschaftliche Entwicklung herhalten, in der es viele Widerstände gab. Angefangen von Berufsverboten, untersagten Auftritten oder sogar Ausbürgerungen in der DDR in den Reihen der Künstler. Das waren die Einschnitte für die Musiker. Nach 1990 war es die Ignoranz von Plattenfirmen und vieler Medien, die für das bundesweit anhaltende Nischendasein sorgte. Die Reaktionen liefen zumeist in einer Richtung: Kennen wir nicht. Machen wir nicht. So berichten zumindest die Betroffenen, denen man die teils versagte Anerkennung nicht anlasten kann.
Davon berichtet anhand vieler Beispiele Labelmanager Jörg Stempel, der neben anderen Tätigkeiten das Erbe der Plattenfirma Amiga (1947 – 1994) mit 30.000 Titeln verwaltet. Er schildert Versuche, Wettbewerbe für Nachwuchsbands zu etablieren und zeigt anhand von Beispielen auf, welche vielfältigen Anstrengungen unternommen worden sind, um in den Radiostationen auf die Musik aus dem Osten aufmerksam zu machen. Es war eine Sisyphusarbeit ohne erkennbaren Erfolg. Auch persönliche Kontakte in den Plattenfirmen halfen ihm nicht. Für den rührigen Musikmanager bleibt als Trostpflaster in seiner Arbeit die Erkenntnis, dass der mit einem Oscar dekorierte Film "Das Leben der Anderen" (2006) mit Musik aus der Nische über die Leinwand lief, die Jörg Stempel allein ausgesucht hatte. In dem Buch dankt er dem Filmregisseur Florian Henckel von Donnersmarck deshalb ausdrücklich für seine Unterstützung.
Jörg Stempel ist einer von 15 Interviewpartnern, die Christian Hentschel zu Wort kommen lässt. Auffallend ist die Länge der Gespräche, die außergewöhnlich ist, wobei sich keiner der Befragten wiederholt, sondern immer wieder neue zum Teil erstaunliche Einblicke gewährt. Sänger IC Falkenberg ist nur ein Beispiel für Kulturschaffende aus der beschriebenen Region, die sich als Musiker, Komponist und Produzent beweisen und damit unabhängig von großen Firmen arbeiten können. Aus seiner Kreativität erklärt sich seine enorme Zahl an Platten. Thomas 'Monster' Schoppe (Renft) überrascht mit Einblicken in sein Schaffen als Solokünstler. Ihm entlockt der Buchautor fast schon poetische Sätze, als er den Sänger nach dessen aktuellen Heimatort in Thüringen befragt. Schoppe antwortet schlagfertig: »Sorry, meine Heimat liegt nicht in Thüringen, nicht in Leipzig oder Berlin, obwohl ich gern mal dort zu Besuch bin. Ich glaube, meine Heimat liegt in der Erinerung an mein Leben.«
Schoppe gibt sich als Prototyp eines ehrlichen und bodenständigen Künstlers zu erkennen. Doch damit ist er in diesem Buch nicht allein. Das eint ihn mit anderen Protagonisten. Die Antworten kommen stets authentisch an. Gerade das zeichnet die Wahl der Interviews aus. Mit einer kurzen Vorblende, die jedem Gespräch voran gestellt ist, macht Christian Hentschel den Leser mit der jeweiligen Person vertraut. Diese gut aufbereitete und kurzweilige Zusatzinformation auf knapp zwei Seiten erlaubt es Interessierten, sich besser dem Interviewpartner zu nähern, falls dieser bisher ein Unbekannter war.
Schließlich gehören zum Kreis der Befragten nicht nur solch bekannte Größen wie Dieter 'Maschine' Birr von den Puhdys oder Claudius Dreilich und Bernd Römer von Karat. Reinhard Tesch (Metropol), Sonny Thet (Bayon) und Wolfgang 'Paule' Fuchs (Pond) gehörten eher der zweiten Reihe an. Dennoch haben ihre Eindrücke Gewicht. Es ist eine weitere Stärke des Buches.
Weil es schon einmal vorkommen kann, dass eine Interviewfrage länger ausfällt als die darauffolgende Antwort, ist es nicht verwunderlich, dass Christian Hentschel mit so manchem Musiker freundschaftliche Kontakte unterhält. Das muss kein Geheimnis bleiben. Diese persönliche Note darf in einem solchen Buch wohl eine Rolle spielen. Kritische Themen kommen trotzdem zur Sprache. Dazu gehört beispielsweise die Auseinandersetzung mit dem Album "Heilige Nächte", das die Puhdys 2013 auf Druck ihres Managers mit Fremdkompositionen aufnehmen mussten, was in der Folge zu langen zwischenmenschlichen Streitigkeiten führte, die zum Teil bis heute von Medien aufgegriffen werden. Übrigens gab der jetzige Solomusiker Dieter Birr zu, aufgrund fehlender Motivation im Corona-Jahr 2020 lediglich ein Lied aufgenommen zu haben. Das Thema Corona spielt in dem Buch keine tragende Rolle. Dem Leser wird aber in einigen Äußerungen klar, dass die – vor allem für Kulturschaffende – schwierige Situation zum Zeitpunkt der Veröffentlichung eine besondere war und noch immer ist.
Autor Christian Hentschel beschäftigt sich seit mehreren Jahrzehnten mit Rock- und Popmusik des Ostens, hat inzwischen 14 Musiksachbücher verfasst und für mehrere Zeitschriften gearbeitet. Biografien über City, Keimzeit und die Puhdys stammen ebenfalls aus seiner Feder.
Sein Buchtitel lässt beim Leser Fragen zu. Eine dieser Fragen könnte lauten: Warum schaffte es die Ostmusik nicht aus dieser Nische? Trotz eines enormen kreativen Vermögens und ihrer Genrevielfalt. Vielleicht reift nach der Lektüre beim Leser die Erkenntnis, dass es in diesem Musikbereich noch nie so viele private Einblicke gegeben hat.
Mit dabei: Claudius Dreilich und Bernd Römer (Karat), Mike Kilian (Rockhaus), Sebastian Krumbiegel (Die Prinzen), Wolfgang 'Paule' Fuchs (Pond), IC Falkenberg, Tina Powileit (Gundermann & Seilschaft), Jörg Stempel (Amiga), Reinhard Tesch (Metropol), Uwe Hassbecker (Silly), Sonny Thet (Bayon), Dieter 'Maschine' Birr (Puhdys), Norbert Leisegang (Keimzeit), Thomas 'Monster' Schoppe (Renft), Manuel Schmid (Stern Meißen), Peter Butschke (Pension Volkmann).
- Verlag: Neues Leben
- 1. Auflage
- Gebundene Ausgabe, 320 Seiten, 14,5 x 21 cm
- rd. 80 Duoton-Abbildungen
- ISBN 978-3-355-01877-7
- Preis: 20 EURO
2 Kommentare
Mario Keim
25. November 2021 um 22:08 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hallo Marco, vielen Dank für Deine Zeilen. Du schmeichelst mir, bin ich doch ebenfalls ein Fan dieser Bands. Dabei ärgert mich seit Bestehen der leidige Begriff Ostrock. Er mag vielleicht eine biographischen Bezug haben, musikalisch gesehen ist es für mich Deutschrock. Rock mit deutschen Texten. Somit bleibt die Stilrichtung immer eine Nische, die eine viel größere Aufmerksamkeit verdient hätte. Um das zu erreichen, ist es heute allerdings viel zu spät.
Liebe Grüße Mario
Marco Schuster
24. November 2021 um 16:23 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hallo Mario,
deine Einschätzungen in deiner sehr umfangreichen, detaillierten und einen "evtl. interessierten Käufer" sicherlich überzeugenden Rezension des hoffentlich nicht "vermutlich allerletzten Ostrockbuchs" traf sich mit meinen Empfindungen nach dem Lesen des Werkes!
Die Protagonisten des Werkes versprechen dem zukünftigen Leser schon aufgrund ihrer Namen und Bands interessante Anekdoten und v.a. die Musiker aus der "2. Reihe", die natürlich vom musikalischen Können keineswegs in die 2.Reihe gehörten, geben interessante Einblicke in ihr musikalisches Schaffen.
Du sprichst einem als "mit dem Ostrock aufgewachsenen" Anhänger mit deinen Worten aus der Seele, wenn es um die Beschreibung des leider wahren Nischendaseins geht und die Nichtbeachtung der meisten Radiosender, wo sämtliche Bands nur mit den alten Hits oder gar nicht präsent sind..Für mich am emotionalsten war die Schilderung der Entstehungsgeschichte des Streits bei den Puhdys, der Maschine nachvollziehbar sehr bewegt hat.
Du hast in deiner Rezension auf jeden Fall den einen oder anderen bisher unentschlossenen Fan zum Kauf des Buches animiert, weil in deinen Zeilen viele Interesse erzeugende Details erwähnt werden und dem Käufer zeigen, dass der Autor der Rezension das Buch nicht nur überflogen hat, sondern sich neben seinem Faible für die Metalszene auch in "heimischen Gefilden" des Ostrocks unheimlich gut auskennt.. Stark! 🙂