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Cinema / Isolation – LP-Review

Cinema - Isolation

Was haben Werdohl und Tibet gemeinsam? Nun, die Antwort findet man nicht im Atlas.
In den Siebzigern habe ich viel Elektronik gehört, kamen doch viele erfolgreiche Vertreter dieser Musik fast aus meiner Nachbarschaft. Düsseldorf und Berlin waren die hiesigen Zentren und brachten viele innovative Künstler hervor. Später hab ich dieses Genre ziemlich aus den Augen verloren. Die Bekanntschaft mit Cinema führt somit in die eigene Vergangenheit, aber auch in die Geschichte des Krautrocks zurück, denn Jürgen Krutzsch, der Mastermind von Cinema, war gleichzeitig auch der Kopf der Deutschen Band Tibet, die Ende der Siebziger ein schnell vergriffenes Album aus dem erweiterten Orbit von Bands wie Eloy oder Camel produzierten. Und Jürgen kommt aus Werdohl, womit sich die Eingangsfrage beantwortet. Dort am beschaulichen Westrand des Sauerlands betreibt er übrigens eine kultige Musikkneipe mit zahlreichen Live-Acts. Das hier vorliegende Album ist eine Wiederauflage des Originals aus dem Jahre 1985 und erschien Ende Juli bei Sireena Records, die schon immer einen guten Instinkt für historischen Krautrock bewiesen haben.

Doch wie hab ich mich anfänglich schwer getan beim ersten Kontakt zu dieser Musik. Es fiel mir zunächst nicht leicht, mich mit den teils recht poppigen Rhythmen anzufreunden, die eigentlich überhaupt nicht mein Ding sind. Doch dann wurde mir irgendwann bewusst, dass auch großartige Klassiker wie La Düsseldorfs "Rheinita" oder Wolfgang Riechmanns "Wunderbar" über solch ausgeprägt gängige Rhythmik verfügten, Songs, die ich damals rauf und runter gehört habe. Es ist wichtig, sich gefühlsmäßig in die Zeit der Entstehung dieses Albums zurück zu versetzen. Ein Blick auf das schlicht schöne, sphärische Plattencover trägt übrigens auch dazu bei.
Besonders neu klingt das alles nicht auf "Isolation", vermutlich auch damals nicht, und der Sound ist auch kein Kracher, sonst ein weit heraus gestelltes Kriterium für elektronische Musik. Man muss aber um die abenteuerliche Entstehungsgeschichte dieser Aufnahmen wissen, die teilweise in Jürgens Abstellkammer entstanden. Erst später wurden die Bänder im Studio bearbeitet und ergänzt, da kommt dann auch schon mal ein verträumt romantisches Saxophon dazu. Gitarren findet man hingegen nicht, die Jürgen Krutzsch noch bei Tibet tragend zum Einsatz gebracht hatte. Der Produktion schadet dies jedoch nicht, die Songs wirken in sich stimmig und vollständig.

Gefällige Keyboard-Sounds bilden die Basis und erinnern häufig an Filmmusik, einsetzende Drum-Machine und ein meist recht poppiges Thema auf den Tasten mit melodischem Gespür eingespielt – so ergibt sich das Grundgerüst der Songs. Teils instrumental, teils mit recht schlichtem Gesang unterstützt, klingen die Kompositionen in vielen Fällen ähnlich wie bei Tangerine Dream. Und dann kommen Sie tatsächlich, die erhofften Bilder im Kopf, schon im ersten Song "Bad Boys In Chinatown", wenn der spontane, Rhythmus geprägte Keyboard-Sound ähnlich dem Space Hit namens "Magic Fly" und diversen Spuren von Peter Baumann sogar kurz einmal eine Anspielung auf Vangelis "China" bereithält. Der gefällige Refrain erzeugt bei mir Erinnerungsfetzen an die Musik des Filmklassikers "Kampfstern Galactica" und eine Zeit, als es so viel Neues zu entdecken gab.
Das mit den Bildern funktioniert übrigens auch umgekehrt. Damals ist mir der Titelsong "White Eagle" von Tangerine Dream nicht besonders nachhaltig in Erinnerung geblieben. Als genau diese Nummer jedoch Monate später mit einer leicht veränderten Akzentuierung in dem Schimanski– Film "Das Mädchen auf der Treppe" erschien, wurde sie für mich unsterblich – unsterblich wie Schimi. Da hat sich die Musik an ein Bild oder besser einen ganzen Film gekuppelt und wirkt bis heute nach.

Gerade diese Assoziationen an die frühen Schimanski-Filme haben mich stimmungsmäßig auf "Isolation" eingegroovt, die Platte hätte selbst einen prima Soundtrack dafür abgegeben.
Mein persönlicher Favorit ist "Magic Night", eine stimmige Keyboard-Hymne mit einer durchgängig mitreißenden Rhythmik und einem einprägsamen Thema, das auch aus der Feder eines Jean-Michel Jarre hätte stammen können. Ein Song mit echtem Hit-Potential und ich verstehe endlich, dass man mit dem richtigen Feeling an diese Platte herangehen muss, nämlich hemmungslos nostalgisch, dann erschließt sich die Wirkung dieser Musik.
Es gibt gerade im Sektor der Elektronischen Musik eine Menge stylischer, hoch technisierter Produkte und innovativer Ideen. Pöngse, wie Jürgen Krutzsch genannt wird, bietet das nicht – ich glaube auch nicht, dass er das wollte. Dafür atmet "Isolation" eine Menge Zeitgeist und handgemachten Enthusiasmus, verbunden mit einen guten Gespür für einprägsame Melodien. Der Retro-orientierte Fan mit Gespür für Musik mit Herz wird dem liebenswerten Charme erliegen, den diese Produktion verströmt. Selbstverständlich auf Vinyl.


Line-up Cinema:

Jürgen Krutzsch (vocals, keyboards)
Heike Wiechert (backing vocals)
Helmut Jost (bass)
Thomas Adam (drums, drum machine, keyboards)
Dirk Schmalenbach (keyboards, drum machine)
Richard Bracht (saxophone)
Birgit Liene (vocals)
Richard Hagel (vocals, backing vocals)

Tracklist "Isolation":

  1. Bad Boys In Chinatown
  2. Mediterranean Sunset
  3. Doin' It Again
  4. Isolation
  5. Magic Night
  6. Silly Guy
  7. Living On The Moon
  8. The Dukes Of Darkness

Spielzeit: 36:50, Erscheinungsjahr: 2016 (Original: 1985)

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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