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Circuline / CircuLive::NewView – Blu-ray-/DVD-/CD-Review

Circuline / CircuLive::NewView

Diese Besprechung habe ich mir ganz gezielt und bewusst bis zum Schluss meiner aktuellen Bemusterungen aufbewahrt; nicht nur, weil das Album weit vor dem Veröffentlichungstermin bei mir zuhause im Postfach lag. Dieses Erlebnis gehört zu meinen größten Überraschungen des Jahres, war mir die Band doch bislang gänzlich unbekannt. Schreiberling zu sein hat eben seine Vorteile.

Circuline sind eine progressive Band, aber im Gegensatz zu vielen Artverwandten lassen sie ihrer Musik ganz viel Zeit und Raum für Improvisation und Jams, was mir als bekennendem Mulehead natürlich besonders viel Freude bereitet. Da wo der Neo Prog live oft haarklein genauso klingt wie die Studio-Versionen, da knistert bei diesem Live-Event von der ersten Sekunde an die aufgeladene Spannung erdverbundener Rockmusik, da entwickeln sich die Momente nicht nach Fahrplan, sondern aus dem Bauch heraus. Und im Verlauf des Konzerts werden wir sehen, dass wir es mit virtuosen Instrumentalisten zu tun haben – aber eben auch zwei gleichberechtigten Stimmen voller Kraft und Dynamik. Theatralisch ja, aber nicht durch übersteigertes Gehabe, sondern schlicht und einfach durch die hinreißend faszinierende Gabe von Mutter Natur. Während der Session wechseln die Musiker schon mal die Positionen und Drummer Darin Brannon legt ein furioses Zeugnis seiner Tastenkünste hin, wenn Andrew ihn zur 'Challenge' auf dem elektrischen Piano fordert. Für den ekstatischen Ausklang dieser geilen Improvisation wechselt halt Joel Simches vom Bass an die Felle, alles kein Problem und später, im 'Drum Feature', da ist die komplette sechsköpfige Band mit dabei und gemeinsam hauen sie auf alles ein, was der Mensch gemeinhin an Schlagzeugen  erfunden hat. Spielfreude und totale Hingabe sind neben den technischen Möglichkeiten und den raffinierten Kompositionen ein herausstechendes Merkmal von Circuline.
Sie selbst nennen ihre Musik übrigens Modern Cinematic Rock. Na dann…

Das satte, dramatisch-ambiente Keyboard-Intro und die gefälligen nachfolgenden Soli in "Soleil Noir" führen in die Irre, denn hier fühle ich mich zunächst ganz nah bei den Engländern von IQ, die wahrlich keine schlechte Adresse wären. Doch mehr neoprogressive Klänge werden wir nicht bekommen. Statt dessen wird es gelegentlich und ungeachtet der gepflegten Gesänge recht sperrig. Emerson, Lake & Palmer klingen irgendwie häufig mit an und hier und da finden sich auch schon mal technisch raffinierte Spielereien, wie sie Van Der Graaf Generator so perfekt beherrscht haben. Diese Momente sind aber eher selten, die Songs werden bei aller Ausgelassenheit durchaus von den Harmonien getragen. Und wenn Alek Darson mit seiner Gitarre den Ton angibt, dann geht die Post richtig ab, seine kantig griffigen Attacken stehen dann eher für krachende Rockmusik denn verträumten Prog. Diese Vielschichtigkeit ist ein weiterer Vorzug der Musik.

"One Wish" bietet den ersten großen Auftritt für die weibliche Hauptrolle. Natalie Brown überzeugt mit fast opernhaftem Timbre ohne jede Exzentrik, eine großartige Stimme voller Ausdruckskraft. Das fast bedrohliche, spärliche Piano-Break wird wiederum selbst durch wüste Riffeinschläge der Gitarre und aufbegehrende Keyboards zerlegt. Die Spannungsamplitude schwingt immer höher aus, bis man zu den jetzt wieder viel wärmeren und Zuversicht schenkenden Vokallinien zurückkehrt.

"Nautilus" mit seinem murmelnd gurgelnden Bass, der fast ein wenig jazzig über dem Piano kreiselt, schließt sich stilistisch an den Vorgänger an. Coole Hooklines und aufregende Einschübe, alles in einem unaufgeregten mittleren Tempo, der Song hat einen geilen Groove.
Hab ich schon erwähnt, dass das Album bereits im Oktober 2017 in New Jersey beim ersten International ProgStock Festival eingespielt wurde? Etwa zu dieser Zeit tourten Circuline unter anderem mit Glass Hammer, die in den Staaten eine große Nummer sind.

"Hollow" ist dann ein echtes Soundmonster von gut zehn Minuten und wird all jenen gefallen, die Freude an David Sylvian oder Steven Wilson haben. Genüsslich darf Andrew sich im Mittelteil austoben, herausgefordert von der bestens aufgelegten Rhythmusfraktion, doch am Ende obsiegen immer wieder die faszinierenden Harmonien und Gesänge. Ein schönes Wechselspiel der Emotionen. Der gespenstisch schöne und sehr ambiente Ausklang vereint ein wenig von ganz frühen Genesis mit einer floydschen Gitarre und verdichtet sich zum Ende zu einem echten Highlight. Tolle Nummer.
Das kurze akustische Stück "Return" setzt nach der spannungsgeladenen Piano-Schlacht ein zweites Break im Set und belegt gleichzeitig, dass nicht nur die Einzelstimmen sehr wirkungsvoll eingesetzt werden. Gerade der herrliche Dreigesang mit Andrew als dritter Stimme trifft wirklich jeden Ton und jede Stimmungslage. Wohl dem, der über solches Potential verfügt.

Der nächste Konzertabschnitt wartet nicht umsonst mit einem düster bedrohlichen Sound-Szenario auf, heißt doch der Song "Fallout Shelter", Atombunker. Die artrockige, aber relativ kurze Instrumentalnummer lebt hier eindeutig vom Duell der Gänsehaut erzeugenden Gitarre und dem brodelnd elaborierenden Schlag. Die Keyboards legen ausnahmsweise nur einen dunklen Tastenteppich, um der Gitarre nicht in die Parade zu fahren. Atmosphärisch eine große Nummer und stimmungsmäßig ein bisschen bei Porcupine Tree.
"Pale Blue Dot" ist dann ein Cover-Titel von Sound Of Contact, nimmt nach dem experimentellen Ausflug ins Reich der Dunkelheit wieder einen deutlich optimistischeren Duktus auf und hat eher so etwas wie Ohrwurm-Charakter.

Ein langgezogenes, mystisch angehauchtes Keybord-Solo eröffnet für den verbotenen Planeten und ich erinnere mich an den mitreißend gezeichneten Science Fiction-Film aus den Siebzigern mit gleichem Titel: "Forbidden Planet". Doch wenn das Keyboard zur Ruhe kommt, wechselt der Song in eine fast balladenhaft schöne Harmonie mit sehr melodischen Hooklines. Hier geht es recht romantisch zu und Natalies Background-Gesänge wecken Gedanken an einen weniger verbotenen Himmelskörper in unserer Nähe und seiner dunklen Seite. Der Ausklang zu diesem Song stellt dann das finale Break dar, denn nun wird allenthalben knapp zwei Minuten lang getrommelt.

"Inception" ist dann wieder so eine Wohlfühlnummer, deren Architektur auf der Basis des elektrischen Pianos und der wohlklingenden Stimmen weitgehend in klassischer Song-Struktur agiert und stimmungsmäßig den Nährboden für die längste Nummer im Set bereitet. "Summit" bildet dabei dem Titel entsprechend den Gipfel des Konzerts und hat einen Hauch Fusion in den Adern. Die Musik bleibt aber ansonsten bei den bereits festgestellten Attributen, die Intermezzi sind allesamt verspielt und voller Lebensfreude, die düsteren Passagen wie den Atombunker haben wir hinter uns zurück gelassen. Tasten und Saiten motivieren sich gegenseitig zu allerlei Fingerakrobatik, während die Takt bestimmenden Parteien noch einmal genüsslich mit der Rhythmik spielen.
Eine Zugabe spielen Circuline, das schöne und ein wenig hymnische "Stereotypes" mit einem herrlich ausschweifenden Gitarrensolo, wo wir dann doch noch einmal ein wenig an der Atmosphäre der Konzerteröffnung schnuppern.

Ich durfte in den vergangenen Tagen und Wochen einige spannende Projekte aus der bunten Welt des Prog vorstellen und weiß ja schon jetzt, dass demnächst ein echter Klassiker auf mich wartet, denn die Herren um Steve Howe haben für Ende Oktober Großes angekündigt. Hier und jetzt bin ich erst einmal Circuline verfallen. Die Mischung aus tragendem Piano, wilden Keyboards, Gitarren-Sounds und den großartigen Stimmen hat es mir angetan, die fröhlich freie Art des Vortrags mit Freude an der Improvisation ist genau mein Ding. Manchmal ein wenig bombastisch, aber ohne Kalkül, jedoch jederzeit mit Herz und Verstand. Und mit einer Menge Können.

Das Album erscheint nicht einfach nur als CD, sondern auch als DVD und Blu-ray, die sogar noch Bonusmaterial enthält. Bei der Bemusterung war darüber hinaus ein sehr schöner großformatiger Katalog mit zahlreichen Fotos der Band beigefügt – fast so als hätten sie geahnt, dass sie bei mir auf einen dankbaren Nährboden fallen.

Als ich den Namen der Band erstmals las, dachte ich zunächst an eine U-Bahn-Linie in London. Inzwischen weiß ich, wer Circuline sind und bin dankbar, dass ich diese Entdeckung machen durfte.
Prog mit Lust am Jam, Wohlklang ohne Kitsch und Theatralik ohne Getue. Da bin ich dabei!


Line-up Circuline:

Andrew Colyer (keyboards, vocals, percussion)
Darin Brannon (drums, keyboards)
Natalie Brown (lead vocals, percussion)
Billy Spillane (lead vocals, rhythm guitar, percussion)
Joel Simches (bass, drums, acoustic guitar)
Alek Darson (lead and rhythm guitar)

Tracklist "CircuLive::NewView":

  1. Intro / Erosion
  2. Soleil Noir
  3. One Wish
  4. Nautilus
  5. Piano Challenge
  6. Hollow
  7. Return (acoustic)
  8. Fallout Shelter
  9. Pale Blue Dot (Sound Of Contact-Cover)
  10. Forbidden Planet / Drum Feature
  11. Inception
  12. Summit
  13. Stereotypes

Gesamtspielzeit: 76:37 (CD), 80:00 (DVD), 129:00 (Blu-ray), Erscheinungsjahr: 2020

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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